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Einstürzende Neubauten

Kein Scherz: Am 1. April 1980 gründet Blixa Bargeld spontan die Band Einstürzende Neubauten, weil er gefragt wird, ob er im Moon Club in Berlin spielen will. Wer gerade Zeit hat, gehört somit zur Erstbesetzung. 40 Jahre später gibt es die Band immer noch und 2020 erscheint das neue Album „Alles in Allem“.

Einstürzende Neubauten (Presspic 2020 Label: Indigo)
Einstürzende Neubauten (Presspic 2020 Label: Indigo)

Wer hätte gedacht, dass diese Anarcho-Truppe der „Genialen Dilletanten“ fast vier Dekaden lang bestehen bleibt? Doch das Konstrukt Einstürzende Neubauten hat sich als äußerst stabil erwiesen und Acts wie Depeche Mode sowie Rammstein stark inspiriert.

Die Neubauten sind jedoch mit nichts vergleichbar und das 40-jährige Bandjubiläum wird mit einem neuen Album gefeiert, das selbstbewusst wie selbstreferenziell  „Alles in Allem“ heißt und thematisch um Berlin, aber auch die Band selbst kreist: So finden sich in Tracks wie „Ten Grand Goldie“ Anleihen an die Industrial-Phase, es gibt Avandgardistisches oder gar Folkiges zu hören und Bargeld changiert stimmlich zwischen Rio Reiser und Nick Cave. Das erste „richtige“ Neubauten-Album seit 10 Jahren ist damit immer noch relevanter und revolutionärer als so manch gehypter deutscher Indie-Act.

Biografie Einstürzende Neubauten:

1981: Die erste Single „Für den Untergang“ wird in einem ca. „halben Mensch“ hohen Hohlraum unter einer Autobahnbrücke aufgenommen – die Instrumente sind dabei eine alte Waschmaschine und ein Stahlschlaugzeug. Ein Jahr nach der ungewöhnlichen Bandgründung erscheint dann das nicht minder ungewöhnliche Debütalbum-Kollaps: Nicht nur aus Kreativität geboren, sondern auch aus Geldmangel bestehen die Instrumente daraus aus Selbstgebasteltem und Gefundenem wie Bohrmaschinen, Hämmern, Winkelschleifer, Presslufthämmer, Schrottstücke, oder Stahlblechen. Dazu kommt Bargelds eigenwilliger Gesang zwischen Flüstern und Schreien, der sich laut Nick Cave – in dessen Band der Neubauten-Sänger von 1984 bis 2003 Gitarre spielte – wie „ein sterbendes Kind“ anhört. Das Ergebnis ist ein mit allen bisherigen Hörkonventionenen brechendes Werk, das in seiner „Unhörbarkeit“ zum Meilenstein der kommenden Industrial-Szene um Acts wie Nine Inch Nails. Zudem sollte diese Band im Laufe ihrer Geschichte zu einer der wenigen deutschen Acts zählen – wie beispielsweise Kraftwerk oder Rammstein – die international wichtige wie individuelle Impulse aussendet.

1983: Die Einstürzenden Neubauten sind dabei von Anfang an mehr als Musik und kein Krawallhaufen: Performance-Kunst und Provokation gehen hier eine Einheit an und als die Band 1983 im Goldenen Saal des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg auftrat, kommentierte Frontman Blixa Bargeld dies so: Der Auftritt sei ein

„Exorzismus“, (mit dem die Band) „eine andere Präsenz in diese vermeintlich heiligen Hallen bringen wollten, eine Präsenz, die dem totalitären Gedankengut, mit dem der Ort verbunden ist, entgegentritt.“

Die Band selbst ist weniger Einheit als ein zunächst wechselvolle Gruppierung um Sänger, Texter und Musiker Blixa Bargeld (mit bürgerlichem Namen Christian Emmerich) herum, als wichtige Mitglieder etablierten sich jedoch schließlich N.U. Unruh, Alexander Hacke, die bis heute dabei sind und die ehemaligen Mitglieder FM Einheit und Mark Chung.

Das ebenfalls 1983 erschienene Album  „Zeichnungen des Patienten O.T.“ verschaffte der Band bereits internationale Aufmerksamkeit und die folgenden Werke „½ Mensch“, „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“ oder „Haus der Lüge“ gelten als Klassiker des Post-Industrial.

1990: Der Wechsel zu Mute-Records bringt den theatralischen Aspekt der Band voran und die Einstürzenden Neubazten vertonen mit „Hamletmaschine“ oder „Faust“ Theaterstücke. Innerhalb der Gruppe kommt es ebenfalls zu Veränderungen, so verlässt Mark Chung die Band 1994 und bei den Aufnahmen zu „Ende Neu“ zerstreiten sich FM Einheit und Blixa Bargeld so sehr, dass auch Einheit geht.

1993: Das Album „Tabula Rasa“ erscheint und die Einstürzenden Neubauten erscheinen mit ihm nun ruhiger, melodiöser aber immer noch abstrakt. Auch Bargelds starke Texte und kryptische Poesie bleiben markantes Merkmal der Band. „Ich stapfe durch den Dreck bedeutender
Metaphern Meta, Meta. Meta fuer Meter
„, singt er im Song „Die Interimsliebenden“. Hypertextuell und historisch verwirbelt er Textfetzten: In „Headcleaner“ wird zum Beispiel „All You Need Is Love““von den Beatles als „Marschlied“ zitiert, indem der Text ins Gegenteil verkehrt wird.

Diser Weg wird auch auf dem Album „Ende Neu“ – ein Wortspiel aus dem Bandnamen – weiter bestritten und sogar eine Ballade ist darauf zu finden mit dem traumhaft fast poppigen Song „Stella Maris“, ein Duett mit Schauspielerin und Sängerin Meret Becker, die bis 2002 mit Alexander Hacke verheiratet war. Mit diesem Track schaffte die Band den Sprung in das MTV-Programm. Auch die Band U2 lud die Einstürzenden Neubauten ein für sie als Support zu spielen, doch nach dem ersten gemeinsamen Gig in Rotterdam wurden sie gleich wieder gefeuert. Das Publikum hatte begonnen die Band auszubuhen als Bargeld auf Deutsch sang, Mark Chung warf daraufhin seine (Aluminium-)Sticks ins Publikum und U2 reagierte daraufhin pikiert.

2000: Vier Jahre danach knüpfen die Einstürzenden Neubauten mühelos an dieses Erfolg mit dem Album „Silence Is Sexy“ an und auch der Clip zur Single „Sabrina“ schafft es ins Musik-TV. Ihr Label Mute wird unterdessen an den Riesen EMI verkauft und die Band beginnt ein eigenes Vetriebskonzept zu entwickeln, insofern sind die Einstürzenden Neubauten auch Vorreiter (oder gar Erfinder?) des Crowdfundings. Bei dem Projekt erschienen diverse Supporter-Album.

2013: Die flämische Stadt Diksmuide beauftragt die Band im Rahmen der 100-jährigen Gedenkfeierlichkeiten des Beginns des Ersten Weltkriegs: Es entsteht dabei das Album „Lament“, das eine musikalische Dokumentation der Geschichte der Stadt Diksmuide ist. Zum Album entsteht eine eigens konzipierte Performance, mit der die Band auf Europatournee geht und die weltweit hohe Beachtung und Anerkennung findet.

2016: Eine gewisse „satte“ Phase tritt ein, denn es erscheint ein „Greatest Hits“-Album, dessen ironischer Titel nicht ganz den Stolz über die bisherige Karriere verbergen kann. Warum auch: Auf dem Album ist eine sorgfältig kompilierte Mischung aus 35 Jahren Bandgeschichte zu hören. Alle Stücke darauf werden zudem neu gemastered und „Haus der Lüge“ soagr neu abgemischt. Wie eigentlich ursprünglich gewollt, aber damals mangels finanzieller Möglichkeiten nicht machbar, wird der Track nun mit Streichern und Bläsern ergänzt. Die Einstürzenden Neubauten treten sogar in der Elbphilarmonie in Hamburg auf – was die Band angesichts des teuren und lange gebauten Konzerthauses sehr ironisch findet – und starten eine „Greatest Hits“-Tour zum gleichnamigen „Best-Of“-Album. Sechs Jahre nach dem letzten Album erscheint 2020 schließlich ein neues Werk namens „Alles in Allem“.

Alles in Allem sind die Einstürzenden Neubauten nicht weniger als eine der wichtigsten deutschen Bands aller Zeiten: Das Logo – inspiriert von der ausgestorbenen mexikanischen Kultur der Tolteken – wird weltweit wiedererkannt. Viele Fans haben es sich tätowieren lassen, berühmtester Träger ist wohl der Musiker Henry Rollins. Ironischerweise ist Blixa Bargeld nicht tätowiert und lehnt die Punk-Szene ab für die die Band ebenfalls steht. Laut Bargeld haben die Punks sie bei ihren frühen Auftritten mit Bierflaschen und Packungen gefüllt mit Erbrochenem beworfen, vereinnahmen nun aber die Einstürzenden Neubauten für sich.

Bargeld, der in einem Interview aus dem Jahr 1989 behauptet hatte, der wichigste Mensch der Welt zu sein, ist auch sonst ein Künstler der Widersprüche, der immer wieder auch abseits der Band für Überraschungen sorgt. 2004 sorgte er mit einer Werbung für die Baumarktkette Hornbach für Aufsehen, in der er theatralisch (und ein wenig selbstironisch) Texte aus den Hornbach-Prospekten rezitierte als sei dies große Literatur.

Schöner kann eigentlich die Dekonstruktion von vermeintlich Hoher Kultur und Schaffung neuer Musik anhand von Baumaterial etc., wie es die Einstürzenden Neubauten geschaffen haben, nicht gezeigt werden. Instrumente sucht die Band inzwischen aus versicherungstechnischen Gründen eben nicht mehr auf dem Schrottplatz, doch auch auf dem neuesten Album musizieren die Einstürzenden Neubauten mit gefundenen und obsulren Spiralen und Röhren. Ähnlich wie bei Kraftwerk – einer anderen deutschen Musik-Ikone – wird aber auch hier die Musealisierung der Band sichtbar, so befindet sich ein ‚Schlagwerk‘ der Einstürzenden Neubauten aus den 1980er Jahren mittlerweile im Rock’n’Pop-Museum in Gronau.

Und auch die Supporter-Idee lebt in „Alles in Allem“ in Social-Media-Zeiten weiter, denn Blixa Bargeld rief einzelne Unterstützer persönlich an, die dann aktiv am Schaffensprozess mitwirkten. Die Einstürzenden Neubauten sind damit wieder einmal ihrer Zeit voraus.

Diskografie Einstürzende Neubauten:

1981: Kollaps

1983: Zeichnungen des Patienten O. T.

1985: ½ Mensch

1987: Fünf auf der nach oben offenen Richterskala

1989: Haus der Lüge

1991: Die Hamletmaschine

1993: Tabula rasa

1996: Faustmusik

1996: Ende neu

2000: Silence Is Sexy

2004: Perpetuum Mobile

2007: Alles wieder offen

2008: The Jewels

2014: Lament

2018: Grundstück (mit DVD)

2020: Alles in Allem

Einstürzende Neubauten (Presspic 2020 Label: Indigo)

Einstürzende Neubauten: Biografie, Alben und Songs

    Kein Scherz: Am 1. April 1980 gründet Blixa Bargeld spontan die Band Einstürzende Neubauten, weil er gefragt wird, ob er im Moon Club in Berlin spielen will. Wer gerade Zeit hat, gehört somit zur Erstbesetzung. 40 Jahre später gibt es die Band immer noch und 2020 erscheint das bislang aktuellste Album „Alles in Allem“.