Mit ihrem vierten Album legen Viagra Boys eine radikal überdrehte, absurd-komische und zugleich erschreckend präzise Zustandsbeschreibung unserer Zeit vor.
viagr aboys ist eine Reise durch Schmutz, Schmerz und Selbstironie, erzählt mit der Wucht einer postapokalyptischen Satire und dem Soundtrack eines versoffenen Fiebertraums. Im Vergleich zum Vorgänger Cave World (2022), der mit klarer politischer Kante operierte, verschiebt sich der Fokus auf viagr aboys hin zur allgemeinen Absurdität des modernen Lebens. Die direkte Satire wird ersetzt durch ein irrlichterndes Spiel mit Trash, Körperlichkeit und männlichem Verfall. Der Frontmann Sebastian Murphy schlüpft erneut in eine Vielzahl von Charakteren: mal hypermaskulin, mal hilflos, mal einfach nur grotesk, stets getrieben von Neurosen, Körperflüssigkeiten und toxischem Lifestyle.
„Ich bin ein Mann aus Fleisch / Du bist im Internet und schaust dir Füße an“, heißt es gleich zu Beginn im Opener „Man Made of Meat“. Diese Zeile fasst die Stimmung des Albums treffend zusammen: Die Welt ist absurd, und der Mensch darin bloß ein weiterer schwitzender Körper im Konsumkreislauf. Die Musik dazu: eine Mischung aus brüllendem Post-Punk, Synth-Pop mit Saxofon-Ausraster und trashiger Americana-Parodie.
Viagra Boys denken das Körperliche nicht erotisch, sondern als Ort des Schmerzes, der Krankheit und des Exzesses. Das Album ist durchzogen von Bildern der Verwesung, Selbstverstümmelung und entgleister Wellness-Obsession. In „The Bog Body“ wird eine Moorleiche zur femme fatale, in „Waterboy“ geht es um Schönheitsideale durch Bierkonsum und acht Gläser Wasser am Tag. Murphy trinkt, schwitzt, erbricht und philosophiert dabei über das Scheitern an einer Welt, die Gesundheit als Produkt verkauft.
Der Sound folgt dieser Logik mit radikaler Konsequenz: Die Stücke sind voller Brüche, Tempowechsel, übersteuerter Samples und absurder Klangcollagen. Auf „Store Policy“ prallen Saxofone, Flöten, Hundegebell und Sirenensounds aufeinander wie in einer Cartoon-Hölle. Es ist Musik, die nie stillsteht und sich selbst ständig zu überbieten versucht wie ein TikTok-Feed auf Speed.
Murphys Figuren sind Karikaturen eines Männlichkeitsbildes, das längst seine Funktion verloren hat. Sie sind verletzlich, peinlich, aggressiv oder einfach nur müde. Auf „Uno II“ wird Paranoia zum stilistischen Mittel, wenn über Zahnarztspionage und flötenspielende Australier sinniert wird. Die Zeile „Meine Persönlichkeit basiert jetzt auf Essen“ ist gleichzeitig komisch und tragisch und fasst das Dilemma einer Generation, die sich zwischen Identitätskrise und Lieferdienst verirrt hat.
Auch in „Dirty Boyz“ taucht der typische „Viagra Boy“ wieder auf: arbeitslos, besoffen, auf der Flucht vor jeder Verantwortung. Der Song kokettiert mit Hedonismus, lässt aber nie Zweifel daran, dass diese Lebensweise keine Freiheit, sondern Resignation ist.
Trotz aller Überzeichnung steckt in viagr aboys eine überraschende emotionale Tiefe. Besonders gegen Ende des Albums schält sich unter der Lärmwand eine leise Sehnsucht nach Verbundenheit heraus. „Medicine for Horses“ ist mehr als nur morbider Humor – es ist eine groteske Liebeserklärung in Zeiten des Verfalls. Die Idee, Spinalflüssigkeit in einem Einmachglas an das eigene Kind weiterzugeben, ist ebenso bizarr wie berührend.
Auch „River King“ überrascht mit fast zärtlichem Ton. Klirrendes Besteck, gedämpfte Gespräche und eine Melodie aus einfachem Klavier lassen die groteske Welt des Albums für einen Moment stillstehen. Es ist ein Moment der Ruhe inmitten des Wahnsinns, ein kurzer Blick auf ein Leben, das einfacher sein könnte.
Musikalisch bleibt das Album dem Sound der Band treu, erweitert ihn aber um noch mehr Chaos. Neben den typischen Punk- und Rock-Elementen finden sich elektronische Spielereien, jazzige Einsprengsel und sogar Vocoder-Experimente. Besonders „Best in Show Pt. IV“ demonstriert diese Vielfalt: Ayahuasca, Poseidon und psychiatrische Anstalten treffen auf einen Sound, der irgendwo zwischen Sleaford Mods, Frank Zappa und einem Supermarkt in Flammen liegt.
Der Humor ist stets beißend, aber nie zynisch. In „You N33d Me“ etwa wird die Prahlerei toxischer Männlichkeit so überspitzt, dass sie ins Tragische kippt. Die Figur ist nicht gefährlich, sondern verzweifelt – und plötzlich erkennt man in ihr den Kollegen, den Exfreund, den eigenen Spiegel.
Viagra Boys auf Tour
Viagra Boys – Biografie
Die schwedische Band Viagra Boys hat sich seit ihrer Gründung zu einem der eigenwilligsten und zugleich spannendsten Acts der internationalen Post-Punk-Szene entwickelt. Mit einer Mischung aus wilder Energie, bitterbösem Humor und gesellschaftlicher Dekonstruktion verschieben sie seit knapp einem Jahrzehnt die Grenzen des Genres – und stellen dabei vor allem eines infrage: den gesunden Menschenverstand.
Street Worms (2018)
Viagra Boys wurden 2015 in Stockholm gegründet, hervorgegangen aus der lokalen Hardcore-, Punk- und DIY-Szene. Die Initialzündung kam durch den amerikanischen Sänger Sebastian Murphy, der aus San Rafael, Kalifornien stammt und nach Schweden zog, um dort ein neues Leben zu beginnen. Murphy, der zuvor als Tätowierer arbeitete, wurde schnell zur zentralen Figur der Band: Mit manischer Bühnenpräsenz, exzessivem Lebensstil und absurd-provokativen Texten über toxische Männlichkeit, Konsumkultur und körperlichen Verfall definierte er die Bandästhetik wesentlich mit.
Nach ersten EPs folgte 2018 das Debütalbum Street Worms. Die Songs darauf – etwa „Sports“ oder „Just Like You“ – machten Viagra Boys über Nacht bekannt. Die Mischung aus hypnotischen Basslines, stakkatohaften Drums, freejazzigem Saxofon und Sprechgesang überzeugte sowohl Kritiker als auch ein wachsendes internationales Publikum. In ihren Texten machten sie sich lustvoll über männliche Posen, Gymkultur und Alltagsabgründe lustig – ein Anti-Männlichkeitsmanifest mit Humor und Wut.
Welfare Jazz (2021)
Mit Welfare Jazz zeigte sich die Band experimentierfreudiger. Der Sound wurde offener, die Produktion vielseitiger. Elemente aus Country, Gospel, Jazz und Pop fanden ebenso Eingang wie ironische Balladen oder Duette – etwa „Toad“ mit Amy Taylor von Amyl and the Sniffers. Das Album offenbarte neue Facetten: Statt reiner Pose rückten Themen wie Sucht, Identitätskrise und emotionale Desorientierung stärker in den Fokus.
Songs wie „Ain’t Nice“, „Girls & Boys“ oder „Creatures“ dokumentieren eine Band, die die Extreme des eigenen Stils auslotet und dabei überraschend ernsthafte Momente zulässt. Die rohe Punk-Energie blieb erhalten, doch zwischen all den Riffs, Saxofonsoli und alkoholgeschwängerten Lyrics blitzte nun auch Verletzlichkeit auf.
Die Liveshows während dieser Phase wurden legendär: Sebastian Murphy torkelte halb nackt über Bühnen, ließ sich tätowieren, stürzte in die Menge – ein moderner Iggy Pop mit nihilistischem Witz und kalkuliertem Kontrollverlust.
Cave World (2022)
Das dritte Studioalbum Cave World war eine direkte Reaktion auf den Zustand der Welt in der Pandemie. Verschwörungserzählungen, paranoide Internet-Subkulturen und toxisch aufgeladene politische Narrative standen im Zentrum. Die Musik wurde aggressiver, schneller, schärfer. Tracks wie „Troglodyte“, „Return to Monke“ oder „Big Boy“ karikierten rechte Ideologien, evolutionäre Selbstverklärung und Pseudowissenschaft mit derart überzogener Absurdität, dass sie ihre Zielscheiben gleichzeitig lächerlich machten und erschreckend präzise beschrieben.
Murphys Texte pendeln hier zwischen polemischer Parole und dadaistischer Skizze. Die Band selbst agiert wie ein Anti-Wellness-Kollektiv, das jede Form von Erleuchtung in den Dreck zieht, um darin etwas Echtes zu finden. Auch visuell wurde diese Ära durch dekadente, groteske Videos und ein immer weiter gesteigertes Bühnenchaos begleitet.
Der plötzliche Tod des Gründungsmitglieds Benjamin Vallé im Oktober 2021 war ein tiefer Einschnitt. Vallé war maßgeblich am Sound der Band beteiligt, und sein Verlust wurde öffentlich und innerhalb der Band intensiv verarbeitet. Cave World wurde zu seinem Vermächtnis – und zum Zeugnis einer Band am Rand der Selbstauflösung.
viagr aboys (2025)
Mit dem vierten Album viagr aboys erreicht die Band eine neue künstlerische Stufe. Was früher nur angedeutet wurde – die Körperlichkeit, der Abscheu, die Groteske – wird hier zum zentralen Thema. Das Album ist ein klanggewordener Fiebertraum, eine Mischung aus cartoonhaftem Wahnsinn, gesellschaftlicher Dekonstruktion und überraschender Emotionalität.
Die Musik ist fragmentierter denn je: Didgeridoos, Vocoder-Stimmen, psychedelische Flöten, brüllende Gitarren, verzerrte Beats. Alles darf kollidieren, nichts muss Sinn ergeben. viagr aboys ist kein Punkalbum mehr im engeren Sinn, sondern ein multimediales Happening, das zwischen TikTok-Irrsinn und Jazz-Selbstzerstörung changiert. Ein Gesamtkunstwerk über den Zustand der Gegenwart.
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