ACT DER WOCHE – Ein ungewöhnliches Debüt-Album eines ungewöhnlichen Künstlers: Nach 36 Jahren ohne ein einziges gesungenes Wort, findet der Musiker Rico Friebe auf „Word Value“ seine Stimme und bringt diese in subtilen Storys und schönen Soundwelten, gewoben aus Pop und Piano, zur Geltung.
„Word Value“ heißt das erste nicht-instrumentale Album des Musikers und Produzenten Rico Friebe, der einigen unter dem Pseudonym Rico Puestel bekannt sein dürfte, mit dem er sich vor allem in der Electro-Techno-Szene einen Namen machte. Nun präsentiert er zarte, atmosphärische und introspektive Popsongs, die von schwebenden Piano-Klängen getragen werden.
Der Opener „This Day“ beginnt mit geradezu perlenden Klavierakkorden und spielerischem Boy-meets-Girl-Gesang – eine gelungene Kombination, die man in weiteren Songs noch häufiger zu hören bekommt. Vielseitig und verspielt sind dann auch die weiteren Kompositionen, „Show Me“ ist beispielsweise ein vielschichtiger hypnotischer Song, der ein wenig an Gothic-Folk-Klänge erinnert und „Sacred Land“ ist in seiner filigranen und fließenden Melodie eine poetische Hymne. Mal minimalistisch, mal mit Flamenco-Klängen oder mit Handclaps versehen, spielt Friebe auf der gesamten Klaviatur der intimen und emotionalen Pop-Musik, ohne in Kitsch zu versinken. Wer die Musik von introvertierten Acts wie Daughter, Poppy Ackroyd oder London Grammar mag, dürfte bei Friebe neue Musikwelten für sich entdecken.
Die Lieder entstanden als Reaktion auf eine einzigartige Begegnung mit einer für ihn sehr besonderen Personund sind die von Aufrichtigkeit und Ruhe in Zeiten großer Unruhe geprägt. Sie erzählen vom Aufstieg und Fall einer manifesten Depression, der Hoffnung sowie einer Entdeckungsreise durch lang vergessene Abgründe und den tiefen Kummer seiner Vergangenheit. Das Album markiert so die tröstende und ermutigende Erhebung aus einer schwer erahnbaren Dunkelheit.
Rico Friebe – Word Value (Tracklist)
- This day
- Leave and go
- Show me
- Listen and talk
- Never know
- After the moment
- Would you mind?
- Sacred land
- Didn’t know
- The river is talking to me
- Things unseen
- Gone
- Thirteen
Um diesen spannenden Künstler näher kennen zu lernen, haben wir ihm 10 Fragen gestellt, die er ausführlich und anschaulich beantwortet hat.
- Was ist das erste Lied, an das Du dich erinnerst? Woran erinnerst Du dich?
„Burning Rope“ von Genesis. Das einleitende Instrumental, dessen progressive Entwicklung von Rhythmik und Harmonien hin zu dem wundervollen „Intro-Thema“ haben sich tief in mir verankert und mich zweifelsfrei nachhaltig geprägt. Das Intro bzw. Stück selbst ist wie eine ziemlich pointierte musikalische Metapher meines Seins. Erst vor ungefähr einem Jahr ist mir das richtig bewusst geworden, da ich damals nun noch ein Kleinkind war und noch nicht mal sprechen konnte. Es ist aber nichts vergessen – nie – doch manchmal eben tief vergraben. Optisch knüpfe ich diese musikalische Erinnerung auch stets an das einzigartige Cover-Artwork der AMIGA-Vinyl-Ausgabe von Genesis (mit einer Mischung aus Songs von „…And Then There Were Three“ und „Duke“) – dessen Symbolik, Farben und dargestellte Welt.- Was war die erste Platte, die Du selbst gekauft hast? Wie war das Gefühl dabei?
Das war ein gebrauchtes und ziemlich abgenutztes Exemplar von C.J. Bollands „Neural Paradox“ mit dem B-Seiten-Stück „Austral Body“ auf R & S Records aus dem Jahr 1995. Es war absolut einzigartig und lehrreich zugleich, Musik in solch greifbarer Form in den Händen zu halten und damit dann am Plattenspieler zu experimentieren. Da war selbst das ewige Springen der Nadel zutiefst faszinierend und genau dieser „Nährboden der Faszination“ hat sich fortlaufend etabliert und kultiviert.- Was war dein erstes Konzert als Besucher? Wie war es?
Phil Collins in Hannover im Jahr 1994. Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne und so auch damals. Natürlich spielte sich das alles musikalisch auf hohem Niveau in einer menschenvollen Stadionkulisse ab und aufregend war dieses Erlebnis in diesen jungen Jahren allemal. Aber die wirkliche Verzauberung für mich bestand darin, festzustellen wie intensiv und stark Musik auf mich wirkt und wie lebensnotwendig sie mir ist – vor allem wenn sie live im Jetzt und somit auch unwiederbringbar erlebt wird.- Wie bist du zur Musik gekommen? Gab es ein besonderes Erlebnis?
Die Musik ist zu mir gekommen. Ich glaube, sie war schon immer da, untrennbar verknüpft mit mir. Das besondere Erlebnis, das Fügung und Schicksal zugleich scheint, war daher vermutlich meine Geburt.- Warum machst Du Musik?
Es ist die positivste Abhängigkeit, die man sich jemals vorstellen könnte. Dieser tiefe, innere Antrieb, dieser ewige Fluss an Energie, welcher mich selbst in den schlimmsten Momenten Großes leisten lässt, ist eindrücklich erlebbar, aber kaum erklärbar – vermutlich könnte dies nur Musik selbst vermitteln. Die Schönheit von alledem liegt darin, dass sich Musik selbst genug ist. Und dann, wenn Worte alleine nichts mehr erreichen und auch Taten nur versiegen, übernimmt Musik die Führung. Ich wurde nie wirklich verstanden und habe meine Sprache weiter und weiter ausgebaut, was im Alltag aber alles nur noch komplizierter gemacht hat. Musik gibt eine Form-, Gedanken- und Gefühlssprache her, die alles viel einfacher und teils überhaupt erst möglich für mich macht. Mein ganzes Leben dreht sich um Harmonie, disharmonische Schwankungen und Einschläge, die es zu leben und zu lösen gilt sowie Rhythmus an jeder denkbaren Stelle, in jeder Faser. Ich bin Musik.- Wie machst Du Musik? Wie funktioniert der Prozess normalerweise?
Wie ein Wahnsinniger – aber im positiven Sinne. Ich sinniere bewusst, doch meist unterbewusst, vor allem in Träumen, stets über Gefühle und Musik. Und dann handle ich aus spontan nicht absehbaren Impulsen heraus, aus der kleinsten Idee, manchmal nur einem Wort und muss alles sofort umsetzen, um nicht das bestimmende und treibende Gefühl sowie den „roten Faden“ zu verlieren. In jenen Situationen kommt dann auch der Wahnsinn ins Spiel: Wenn es beginnt, befinde ich mich einem vollkommen losgelösten Flug und weiß genau, was ich tun muss. Wenn nicht – finde ich es schnell heraus. Ich löse gerne Probleme. Ich gehe dann schnell in eine Phase über, in der ich so unheimlich schnell und konzentriert arbeite als würde mein Leben davon abhängen – was es auch irgendwie tut. Und da sich vorher bereits alles in meinem Kopf zusammenbaut, nehme ich beispielsweise Instrumente für einen Song auf, der noch gar nicht komplett geschrieben ist – der Rest fügt sich dann einfach (ein). Selbst Songtexte schreibe ich (nachdem ich gefühlt mein Leben lang darüber nachgedacht habe) so schnell auf, dass ich sie sofort vom Papier absingen muss, da ich sie „quantitativ“ noch nicht einmal verinnerlicht habe, aber nur so in diesem einen Moment die eigentliche emotionale Qualität festhalten kann. Nachdem ein Song fertig ist, muss ich ihn dann meist erstmal ergründen sowie auch erlernen und entdecke mich somit dann selber auch immer wieder neu. Dann entdecke ich zudem Passagen, die im Zauber des Momentes (also auch der Aufnahme) problemlos zu spielen oder zu singen waren, aber im Nachhinein erstmal geübt werden müssen. In besagten „Momenten“ scheint mich eine fremde Hand zu führen.- Welche Künstler haben Dich am meisten geprägt? Warum?
Da ich seit jeher stilistisch interdisziplinär unterwegs bin, gibt es an jeder Genre- und Stilfront diverse Künstler, die hier genannt werden könnten. Wohlbemerkt natürlich auch über die Grenzen der Musik hinaus. Das führt verschlungene Pfade über J. S. Bach, Frank Zappa, Erasure, System Of A Down oder Limp Bizkit hin zu David Lynch usw. So pathetisch bis poetisch es auch klingen mag, aber die größte und prägendste Künstlerin war, ist und bleibt die Natur.- Was möchtest Du mit deiner Musik erreichen?
Ich möchte Verstehen und Verständnis kommunizieren. Ich möchte überhaupt und an sich „kommunizieren“. Mit mir selber und mit allen und allem, was mich umgibt. Ich möchte Gutes anleiten, Schlechtes auffangen. Ich möchte so verstanden werden, dass all das möglich sein kann. Ich möchte Halt geben und auch beim Loslassen helfen. Ich möchte Vertrauen schenken und auch Vertrauen gewinnen können. Ich möchte Fragen stellen, aber auch Antworten geben können.- Was ist Dein bisher bestes Lied?
„One To Four / Quarter, Last…“ (eine Single in zwei Teilen, die im Sommer 2023 erscheinen wird) halte ich für meinen persönlichen „Peak“ darin, am Instrument, im Gesang und in den gewählten Worten einen ganzen Kosmos von Gefühlen abzubilden, der mich auch selber immer und immer wieder – auch nach hunderten Malen des Hörens – erreicht und abholt und zugleich etwas sehr Zentrales in mir abbildet. Trotzdem bin ich darauf nicht wirklich stolz. Bin ich nie. Stolz kann bedenklich schnell zu Hochmut führen – eine der sieben Todsünden. Da sollte man lieber die Finger von lassen, Dinge bedacht zur Kenntnis nehmen und dann einfach weitermachen und über sich hinaus wachsen so lange es geht.- Woran arbeitest Du gerade? Was kommt als nächstes?
Nebst einer kleinen Sammlung mit drei Singles (u. a. „One To Four / Quarter, Last…“) im Sommer namens „Songbook – Chapter One“ erscheint im Spätsommer bzw. Herbst der „Word Value“-Nachfolger mit dem Titel „Faces Meet“. Nachdem ich im letzten halben Jahr über 100 Songs in einer Gestalt, wie auch auf „Word Value“ zu hören, geschrieben und aufgenommen habe, sitze ich momentan viel an Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass und es entsteht nebenher etwas „ganz anderes“. Zudem arbeite ich an einigen Performance-Aspekten zu den Songs von „Word Value“ und auch den Nachfolge-Alben. Musik ist mit mir, immer und überall – solange ich bin.
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