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The Wire: Serie mit Legendenstatus

Das Polizeidrama The Wire (2002 – 2008) war eine TV-Sensation. Und hat bis heute keinen Staub angesetzt.

Was die Mordrate angeht, ist Baltimore eine der gefährlichsten Städte der USA. Armut und Verwahrlosung treibt Menschen in die Kriminalität, es gibt ein gewaltiges Drogenproblem. Wie sang Randy Newman, gewohnt pointiert, schon in den 70ern: „Oh, Baltimore / Man, it’s hard just to live“. Doch warum kommt die von den Demokraten regierte Stadt, deren Einwohner zu über 60 Prozent Afroamerikaner sind, nicht auf die Beine? Wo liegen die Probleme? Nun: überall. Diese ernüchternde Antwort gab in den Nullerjahren die The Wire-Serie auf HBO. Über fünf Staffeln hinweg beleuchtete sie sämtliche Aspekte: Strukturen des organisierten Verbrechens, Situation der Süchtigen, Strategie der Polizei, Rollen von Politik, Gesellschaft und Medien.

Dass die Serie, der Titel bezieht sich auf Abhöraktionen der Polizei, viel realistischer daherkommt als andere, hat einen Grund: Die Drehbuchautoren sind vom Fach. David Simon schrieb als Journalist über ein Jahrzehnt für die Baltimore Sun, bevor er die Gelegenheit bekam, ein Jahr lang die Arbeit der Mordkommission hautnah mitzuerleben. Nach mehreren Projekten verfasste er gemeinsam mit Ed Burns, der als Ex-Ermittler umfassende Kenntnisse über die Drogenkriminalität im Western District hatte, zunächst das Buch „The Corner“. Das adaptierten die beiden für eine gleichnamige Miniserie (2000). Mit The Wire folgte das Glanzstück der Autoren. Alle Hauptcharaktere sind vielschichtig, es gibt weder Helden noch Figuren, die ausschließlich böse sind. Echte Menschen.

Auch bei der Umsetzung der 60 Folgen wurde fast durchweg darauf geachtet, die Polizeiserie nicht künstlich wirken zu lassen. Das Team drehte in Baltimore fast ausschließlich mit nur einer Kamera, um das Gefühl der Unmittelbarkeit zu erzeugen. Auf Musik, das Titelstück „Way Down In The Hole“ stammt von Tom Waits‘ Album „Franks Wild Years“ (1987) und ist in jeder Staffel in einer anderen Version zu hören, wurde fast komplett verzichtet. Und die Darsteller:innen, es gibt nicht eine, sondern zahlreiche Hauptrollen, sind erstklassig. Jede Staffel beleuchtet andere Gesichtspunkte.

Staffel 1

Eine Sonderkommission der Polizei von Baltimore ermittelt unter Führung von Cedric Daniels (Lance Reddick) gegen die afroamerikanische Drogenbande von Avon Barksdale (Wood Harris) und dessen rechte Hand Stringer Bell (Idris Elba). Das Geld bei der Polizei ist knapp, zudem verfolgen ranghohe Beamte vor allem eigene Interessen. Das erschwert die Arbeit der Ermittler. Am frustriertesten ist James „Jimmy“ McNulty (Dominic West), ein irischstämmiger Heißsporn, der sich regelmäßig über Befehle hinwegsetzt. Er ist ein hervorragender Mordermittler, doch mit Hang zu Alkohol und Affären. Zu den fähigen Polizist:innen zählen auch McNultys Kollege, Freund und Saufkumpel William „Bunk“ Moreland (Wendell Pierce), Detective Shakima „Kima“ Greggs (Sonja Sohn), Daniels und – später – Lester Freamon (Clarke Peters). Hinzu kommen die unzufriedenen Befehlsempfänger Ellis „Carv“ Carver (Seth Gilliam) und Thomas „Herc“ Hauk (Domenick Lombardozzi) und ein paar Pfeifen, die andere Abteilungen der Polizei zur Sonderkommission abgeschoben haben.

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Die Staffel beleuchtet das Innenleben sowohl der Gangsterbande als auch der Polizei und sorgt für Verständnis für beide Seiten. Zwei der stärksten Figuren stehen außerhalb der Organisationen: der heroinsüchtige Polizeispitzel Bubbels (Andre Royo) sowie der schrotflintenschwingende homosexuelle Omar Little (Michael K. Williams), der die Drogenbanden auf eigene Faust bestiehlt. Selten war ein Serienauftakt so vielversprechend.

Staffel 2

Nach dem Erfolg der ersten Staffel erwarteten alle eine nahtlose Fortsetzung. Doch weit gefehlt: Staffel 2 beschäftigt sich nur zum Teil mit der Barksdale-Bande und spielt fast ausschließlich im und am Hafen. Dort versuchen sich polnischstämmige Arbeiter durchzuschlagen. Mit Schmuggel will die von Frank Sobotka (herausragend: Chris Bauer) geführte Gewerkschaft Geld anhäufen, um die Bedingungen für die Mitglieder zu verbessern. Dafür arbeitet er notgedrungen mit einer griechischen Gangsterorganisation zusammen, die ein kriminelles Netz über ganz Baltimore gespannt hat. Ärger hat Sobotka insbesondere mit seinem nichtsnutzigen Sohn Ziggy (James Ransone), der eine Tragödie auslöst, sowie wortbrüchigen Politikern. Eine weitere Hauptfigur ist Sobotkas Neffe Nick (Pablo Schreiber). Er zieht Ziggy immer wieder aus dem Dreck. Bis es nicht mehr geht.

Die Polizei ist zunächst am Hafen präsent, weil 13 tote Frauen in einem Container gefunden worden sind. Aufgrund eines Streits zwischen Sobotka und dem selbstgefälligen ranghohen Polizeibeibeamten Stan Valchek (Al Brown) rückt aber dann die Gewerkschaft ins Zentrum der Ermittlungen von McNulty und Co.

Die Staffel wird oft diskutiert, weil sie nicht recht in die Serie passt. Doch für sich genommen ist sie überragend.

Staffel 3

Die Barksdale-Bande ist zurück im Mittelpunkt. Während Chef Avon im Knast schmort, führt Stringer Bell die Drogenorganisation wie einen Konzern. Er paktiert mit anderen Syndikaten, um die Geschäfte nicht durch Konflikte zu stören. Zudem investiert er in Immobilien mit dem Ziel, Drogengeld zu waschen. Doch er hat die Rechnung ohne korrupte Politiker gemacht. Und er hält sich für schlauer, als er ist. Mit fatalen Folgen, auch weil die Sonderkommision immer mehr Erkenntnisse über die Bande sammelt. Schließlich verraten sich Stringer und Avon gegenseitig.

Viel Raum nehmen diesmal politische Ränkespiele ein. Die Polizei steht wegen der hohen Kriminalitätsraten in der Stadt unter Dauerdruck. Daraufhin startet Major Howard „Bunny“ Colvin (Robert Widsom), kurz vor der Pensionierung, eigenmächtig ein Experiment. Er weist Zonen in der Stadt aus, in der Drogen ohne Einmischung der Polizei verkauft und konsumiert werden dürfen. Das führt zwar zu sinkenden Kriminalitätsraten, die sozialen Auswirkungen auf die Bezirke sind jedoch verheerend. Eine neue Figur ist auch Stadtrat Thomas „Tommy“ Carcetti (Aiden Gillan), der Bürgermeister werden will und dafür kräftig Strippen zieht. Noch ist er zu unerfahren und hat hehre Ziele. Er wird seine Lektion lernen.

Staffel 4

Die beste Staffel von The Wire. Sie erläutert ohne Zeigefingermoral, warum es den Gangstersyndikaten nie an Nachwuchs mangelt. Ein Hauptfokus liegt diesmal auf einer Brennpunktschule. Zerrüttete Familienverhältnisse, Kriminalität: Die Perspektiven der meisten Schüler:innen sind katastrophal, die Lehrenden überfordert und frustriert. Das Budget ist viel zu knapp, und der Unterrichtsstoff hat nichts mit der Lebenswelt der Mädchen und Jungen zu tun. Freilich kümmert das die Politik einen Dreck.

Dennoch hat diese eine Schule etwas Glück: Sie wird für ein Uni-Forschungsprojekt ausgewählt. Einige besonders schwierige Schüler:innen werden aus ihren Klassen geholt und gesondert unterrichtet. Als Berater fungiert der als Polizei-Major geschasste Bunny Colvin. Zu den Schwererziehbaren gehört unter anderem Namond (Julito McCullum). Er ist der Sohn des im Gefängnis sitzenden Roland „Wee-Bey“ Brice (Hassan Johnson), einem früheren Topkiller der Barksdale-Bande. Namond ist begabt, muss aber der Familientradition wegen als Kleindealer arbeiten. Dank Colvin wird er schließlich aus dem Milieu gerettet, während seinen Schulfreunden jeder Ausweg versperrt bleibt.

Derweil steigt Marlo Stanfield (Jamie Hector) zum neuen Drogenkönig der Stadt auf. Auch dank der Killer Chris Partlow (Gbenga Akinnagbe) und „Snoop“ (Felicia Pearson, die selbst aus dem Banden-Milieu stammt). Für die beiden ist Morden ein ganz normaler Job, was die Szenen umso verstörender macht. Die Leichen versteckt das Duo in leerstehenden Häusern. Auf diesen neuen Kniff kommt die Polizei lange nicht, die Ermittlungen stocken. Was Staffel 4 so auszeichnet, ist, dass sie die politischen und gesellschaftlichen Ebenen schlüssig in Beziehung zueinander setzt. Stadtrat Tommy Carcetti wird Bürgermeister und im Handumdrehen vom ehrgeizigen Naivling zum egoistischen Machtpolitiker. Personen kommen und gehen, doch es läuft weiter wie gewohnt. Immer und überall.

Staffel 5

Die letzte Staffel hätte es nicht mehr gebraucht. Sie ist die schwächste – und dennoch gut. Am gelungensten ist der Blick auf die Rolle der Presse. Bei der Baltimore Sun, jener Zeitung, für die Wire-Autor David Simon arbeitete, wird an allen Ecken und Enden gespart. Auch Entlassungen gehören zum Kürzungsplan. Besser machen die das Blatt nicht, aber wer interessiert sich schon für Journalismus? Nur ein paar alte Idealisten. Der Konflikt wird etwas plakativ abgehandelt, trotzdem funktioniert die Geschichte. Es gibt Redakteure mit Journalistenehre wie Augustus „Gus“ Haynes (Clark Johnson, führte bei zehn Wire-Folgen auch Regie) und den unmoralischen Emporkömmling Scott Templeton (Tom McCarthy). Er frisiert und erfindet seine Storys. Und wird dafür belohnt. Das kennt man doch, oder? Hallo, Spiegel, hallo, Claas Relotius.

Die Staffel ist die einzige mit klarem Hang zur Satire. Dadurch leidet allerdings die Glaubwürdigkeit insbesondere eines Handlungsstrangs. Etatkürzungen behindern die Arbeit der Polizei. Um weiter gegen Marlo und seine Bande ermitteln zu können, täuscht der inzwischen dauerbesoffene Jimmy McNulty Serienmorde vor. Dass Geschichtenerfinder Templeton seinen Teil zur Mär beiträgt, spielt McNulty und seinem Mitstreiter, dem Strategen Lester Freamon, in die Karten. Arg konstruiert. Und die Staffel hat ein zweites Problem: Wirklich noch die Dümmsten sollen kapieren, dass sich in Baltimore Geschichte wiederholt. Deshalb gibt es einen neuen Gangster-Freelancer nach Omar-Vorbild und einen neuen mitleiderregenden Drogenabhängigen wie Bubbles. Und so weiter. Als hätte es die vierte Staffel nie gegeben.