Konzertveranstalter Berthold Seliger über die dramatischen Folgen der Krise.
Seit Mitte März finden in Deutschland keine Konzerte mehr statt. Nun wurde das Verbot bis mindestens Ende August verlängert. Die gesamte Konzertwirtschaft steht damit am Abgrund. Konzertveranstalter Berthold Seliger fordert im Tonspion die Politik zum Handeln auf.
Von Thomas Bernhard stammen die schönen Zeilen:
„…wir müssen alles absagen
in Zukunft alles absagen
verstehen Sie
wir sagen in Zukunft alles ab“
(aus „Der Ignorant und der Wahnsinnige“)
Wer hätte gedacht, daß diese Zeilen, die ja letztlich eine Verweigerungshaltung gegenüber der Welt und dem immerwährenden Hamsterrad darstellen, eine Art „I would prefer not to“, wie Melvilles Bartleby, der Schreiber, sein Nicht-Mehr-Mittun-Wollen artikulierte, daß diese Zeilen also jemals die alltägliche Situation von Konzert- und Tourneeveranstaltern in Zeiten der Coronära beschreiben würden. Ein erzwungenes Nichtstun also, das ins Gegenteil verkehrte aktuelle Berufsbild in der Konzertwirtschaft: Es wird alles abgesagt. Wir müssen alles absagen. Oder versuchen, Konzerte wenn irgend möglich zu verschieben.
Auf den Kopf gestellte Zeiten
Durch den Vorschlag der Bundesregierung, alle Veranstaltungen bis zum 31.August 2020 zu untersagen, herrscht endlich Klarheit und Verbindlichkeit, auch wenn das natürlich trostlose Aussichten für alle Konzertfans und Festivalgänger*innen, aber auch für die lebendige und vielfältige Konzertlandschaft an sich sind.
Die meisten Tournee- und Konzertveranstalter haben die letzten Wochen ohnehin damit verbracht, bereits gebuchte und im Vorverkauf befindliche Tourneen abzusagen bzw. zu verschieben, und es ist genau so, wie es sich alle leicht ausmalen können: Daran wird nichts verdient, man macht Zusatzarbeit und verursacht zusätzliche vorzufinanzierende Kosten, ohne irgendwelche Einkünfte zu haben.
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Die Tatsache, daß hierzulande Juni-Festivals wie Rock am Ring, Hurricane oder Southside im Gegensatz zu Glastonbury, Roskilde, Eurockeenes oder Nova Rock in unseren Nachbarländern noch nicht abgesagt worden waren, hing ausschließlich mit Haftungsfragen zusammen, die Veranstalter warteten auf die Absagen der Behörden.
Die Vorbereitung von Tourneen und von Festivals zieht sich über etliche Monate, und wenn wir alle einigermaßen im Voraus Bescheid wissen, können wir uns einen Teil der notwendigen Investitionen (von Wo*Manpower bis Werbung) sparen.
Tourneen brauchen Vorlaufzeiten (und übrigens auch Reisefreiheit). Es bedarf, Föderalismus hin oder her, bundeseinheitlicher Regelungen, ein von Bundesland zu Bundesland unterschiedlicher Flickenteppich von Entscheidungen macht sinnvolle Planung von Konzerten und Tourneen unmöglich.
Insofern ist die jetzige Entscheidung, die wohl von allen Bundesländern so umgesetzt werden dürfte, zu begrüßen – aus gesundheitlicher Sicht sowieso, also zum Schutz der Menschen vor der weiteren Ausbreitung des Covid-19-Virus, aber eben auch, um die massiv gebeutelte Konzertbranche vor weiterer Planungsunsicherheit zu bewahren, wie sie die letzten Wochen leider herrschte.
Konzertorganisatoren benötigen rechtsverbindliche Aussagen, weil das sogenannte „Force Majeure“, „die „höhere Gewalt“, nur durch behördliche Verbote der Durchführung von Veranstaltungen eintritt, und die Tournee- und Konzertveranstalter sind nur durch den Eintritt von höherer Gewalt von der Zahlung der fremden Kosten befreit, was ihnen zumindest für einen überschaubaren Zeitraum von ein paar Monaten das Überleben sichert.
Im Fall der Absage durch höhere Gewalt muß jeder Vertragspartner seine eigenen Kosten bestreiten, es können aber keine Rechtsansprüche an die Vertragspartner gerichtet werden. Das hilft den Musiker*innen zunächst nicht, denn sie erhalten in diesem Fall keine Gage.
Es hilft aber den Konzertveranstaltern, weil die weder Gage noch zum Beispiel Miete für die Veranstaltungsorte bezahlen müssen – sie bleiben aber natürlich auf allen eigenen Kosten sitzen, von Werbung und Personal bis Büromiete. Und wenn die Veranstalter etwas länger überleben können, nützt das langfristig auch den Musiker*innen, da die Infrastruktur erhalten bleibt, auf die sie in der Nach-Corona-Zeit wieder zurückgreifen können. Wir sprechen hier von etwa 15.000 allmonatlich stattfindenden Konzerten im Club- und kleineren Hallen-Bereich, hinzu kommen noch Großkonzerte und Festivals.
Die Konzertbranche steht am Abgrund
Den Musiker*innen, Veranstalter*innen und Kulturarbeiter*innen ist bewußt: Konzerte wurden als erstes unter- und abgesagt. Und Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen werden die letzten sein, die nach Ende des Corona-Lockdowns wieder möglich sein werden. Insofern betrifft der Lockdown die Live-Branche ganz besonders hart wie nur wenige andere Branchen. Sechs Monate komplett ohne Einnahmen, bei gleichzeitig weiterlaufenden Kosten!
Und die Ungleichheit, die sowieso allerorten herrscht, ist in der Konzertszene besonders manifest: Die Behauptung, daß Covid-19 und Corona alle gleich machen würde, ist eben grober Unfug. Sicher, Anna Netrebko oder Madonna können derzeit ebenso wenig öffentlich singen wie die unbekannten Songwriter*innen aus Neukölln, Giesing oder St. Pauli. Doch die Superstars verfügen anders als junge und unbekannte Musiker*innen über einen ausreichenden ökonomischen Background, um problemlos über die Runden zu kommen.
Nochmal zur Erinnerung: das durchschnittliche Jahreseinkommen von „freien“, also nicht fest angestellten Musiker*innen betrug in Deutschland zum 1.1.2019 laut Künstlersozialkasse gerade einmal 14.628 Euro, das der weiblichen Musikerinnen sogar nur 12.222 Euro.
Während der Vorstandsvorsitzende von CTS Eventim, Klaus Peter Schulenberg, Dollar-Milliardär ist und der CEO von Live Nation, Michael Rapino, laut New York Times über ein Jahreseinkommen von mehr als 70 Millionen US-$ verfügt (wobei Live Nation am 13.4. drastische Gehaltskürzungen des Managements angekündigt hat, Rapino will 2020 sogar komplett auf sein Gehalt verzichten), verdienen die zahlreichen, meist selbständigen Arbeiter*innen im Konzertbetrieb, also Stagehands, Securities, Roadies, Techniker*innen, Busfahrer, Bühnenarbeiter usw., häufig gerade einmal Mindestlohn.
Hier rächt sich die fest installierte Prekarisierung weiter Teile der unabhängigen Musikszene, das „Von-der-Hand-im-Mund-Leben“-Prinzip, das nicht nur in der Subkultur gang und gäbe ist. Und dieses Prinzip gilt eben nicht nur für die Musiker*innen, sondern auch für all die vielen Zehntausend Kulturarbeiter*innen, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, die aber große wie kleine Konzerte überhaupt erst möglich machen und die meistens sogenannte Solo-Selbständige, Freiberufler, Aufstocker oder Minijobber sind.
Bei einem Konzert, zu dem 1.000 Leute kommen, arbeiten am Abend etwa 60 Leute im Hintergrund, und dazu kommen noch all diejenigen, die mit der Planung, Vor- und Nachbearbeitung beschäftigt sind.
Etwa 50.000 Musiker*innen und einer deutlich sechsstelligen Zahl von Selbständigen, Freiberuflern und prekär Beschäftigten sind mit Beginn der Corona-Einschränkungen von heute auf morgen ihre Einnahmemöglichkeiten komplett weggebrochen.
Das von SPD und Grünen um die Jahrtausendwende propagierte und im Zuge von Hartz 4 in Gesetze gegossene Prinzip der Ich-AGs, das von der einstmals so bezeichneten „kreativen Klasse“ verinnerlicht und eifrig umgesetzt wurde, rächt sich in diesen Krisenzeiten bitterlich. Hier ist eine Art kulturelles „Dienstleistungsprekariat“ entstanden, das sich von der ebenfalls prekär lebenden „Service class“ (Reckwitz) aus zum Beispiel Paketzustellern oder Pflegekräften dadurch unterscheidet, daß es größtenteils selbstbestimmt und kreativ arbeiten kann, was ja in guten Zeiten ein nicht zu verachtender „Luxus“ ist – mit diesen aber nicht nur in Zeiten der Epidemie die massiven wirtschaftlichen Probleme teilt.
Hinzu kommt die bereits seit längerem zu verzeichnende Spaltung innerhalb der neuen Mittelschicht, die Andreas Reckwitz beschrieben hat: Einerseits diejenigen, die über feste Anstellungen verfügen: Lehrer*innen, Beamte und Angestellte in der „Wissensökonomie“, aber auch zum Beispiel Orchestermusiker*innen, Angestellte staatlicher oder kommunaler Kulturbehörden und Kulturzentren, Ensemblemitglieder oder Intendant*innen, deren Gehälter einfach weiterlaufen – und auf der anderen Seite all die selbstständigen Kulturschaffenden im Musik-, Theater- und Kunstbetrieb oder auch im Journalismus, die generell mit hohem Risiko und kleinen Einkünften leben, aber in der Coronära von heute auf morgen vor dem wirtschaftlichen Nichts stehen.
Die Ungleichheit setzt sich bei den Konzert- und Tourneeveranstaltern fort: Die Weltmarktführer CTS Eventim und Live Nation sind Aktiengesellschaften und verfügen über zig Millionen Rücklagen und sind außerdem im Milliardenbereich kreditwürdig (die langfristigen Verbindlichkeiten, „long-term debts“, von Live Nation beliefen sich laut Geschäftsbericht des Konzerns zum 31.12.2019 auf 3,31 Milliarden US-$; am 13.4. hat der US-Konzern mitgeteilt, aufgrund der Corona-Krise eine zusätzliche Kreditlinie in Höhe von 120 Mio. US-$ eingerichtet zu haben und damit über etwa 940 Mio. kurzfristige Kredite zu verfügen).
Die Rücklagen der unabhängigen Tournee- und Konzertveranstalter dagegen sind gering und reichen für ein paar Monate, wenn überhaupt. Und Clubs und Kulturzentren, die von gestern auf heute schließen mußten, können kaum ein paar Wochen überleben, die ersten Clubs mußten bereits Insolvenz anmelden, weil ihre Rücklagen höchstens für vier bis sechs Wochen reichen, die hohen Kosten aber weiterlaufen.
Wie die großen Akteure in der Konzertbranche die kleinen fressen
Und es ist zu befürchten, daß die bestehende Ungleichheit zwischen den Akteuren durch die Corona-Krise noch massiv verstärkt wird. Seit ein paar Jahren befinden sich die Großkonzerne der Konzertindustrie auf weltweitem Beutezug und kaufen Agenturen, Tournee- und Konzertveranstalter und Konzerthallen auf, größtenteils befeuert und finanziert von den gigantischen Profitraten im Ticketing.
Zur Erinnerung: Die weltgrößten Konzertveranstalter sind gleichzeitig Ticketkonzerne, sei es CTS Eventim, sei es Live Nation mit Ticketmaster. Die Bruttomarge im Unternehmensbereich Ticketing liegt beim deutschen Marktführer CTS Eventim kontinuierlich bei sensationellen 60 Prozent (im Geschäftsjahr 2019 z.B. 60,5 %).
Wenn jetzt die unabhängigen Tourneeveranstalter, die die Haupt“gegner“ der großen Konzertkonzerne beim Bieter-Wettbewerb um attraktive Bands sind, aber auch die vielen kleineren und mittleren Konzertveranstalter und die Clubs und Hallen wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand stehen, bedeutet das letztlich, daß Konzerne wie CTS Eventim und Live Nation sich die letzten noch vorhandenen unabhängigen Konzertfirmen zu günstigen Bedingungen unter den Nagel reißen können.
Zumal die unabhängigen deutschen Tourneeveranstalter aufgrund der monatelangen Konzertabsagen finanziell angeschlagen sind und bei den Angeboten an die Musiker und Bands mit den milliardenschweren Konzernen, die allein schon aufgrund ihrer Kreditfähigkeit, aber auch dank ihrer quasi monopolistischen Ticketingabteilungen über ausreichenden Cashflow verfügen, nicht mehr mithalten können.
CTS, Live Nation, aber auch andere Konzertkonzerne, die Aktiengesellschaften sind oder sich im Besitz von Private Equity-Konzernen befinden, können den Bands nach wie vor bei Vertragsabschluß 50 Prozent der Gagen vorfinanzieren, während unabhängige Veranstalter zunächst mal Tickets verkaufen müssen, um über entsprechende finanzielle Mittel zu verfügen – und der Ticketverkauf ist in Zeiten von Covid-19 faktisch nicht mehr vorhanden.
Wir werden also, wenn hier die Politik nicht einschreitet, eine weitere Mono- oder Duopolisierung des Konzertgeschäfts im Pop- und Rock-Bereich erleben, zulasten der kulturellen Vielfalt im Bereich der Zeitkultur. Und zulasten der vielen kleineren und mittleren Bands und all der vielen Musiker*innen, die (noch) keine Superstars sind.
Denn am sorgfältigen Künstleraufbau haben die Großkonzerne naturgemäß kein Interesse, sie sind nur am Superstarmarkt mit den zu erwartenden Superrenditen interessiert. Wenn die Szene der Clubs, der soziokulturellen Zentren und der unabhängigen Konzertveranstalter wegbricht, fällt die gesamte Infrastruktur der aktuellen Musikszene in sich zusammen.
Die Politik muss eingreifen
Was kann getan werden, um diesem drohenden Kollaps der unabhängigen Konzertszene entgegenzuwirken? Zunächst: Die Politik muß Maßnahmen ergreifen, um den Aufkauf der durch die Coronakrise angeschlagenen Konzertfirmen und Clubs durch finanzstarke Großkonzerne zu unterbinden.
Vermutlich sollten „wir“ weniger Angst davor haben, daß chinesische Konzerne deutsche Firmen aufkaufen – im Kulturbereich jedenfalls sind deutsche und amerikanische Konzert-Imperien das Problem. Wenn von der „Konzertwirtschaft“ die Rede ist, wird eine Einigkeit und Interessengleichheit von Wölfen und Schafen behauptet.
Mag sein, daß Wölfe und Schafe mal eine Zeitlang den gleichen Text sprechen, hin und wieder hört man aus dem Geblöke und Geheule sogar mehrstimmig das wohlklingende Wort „Solidarität“ heraus, aber es ändert nichts an der Tatsache, daß die Wölfe im Zweifelsfall nun mal die Schafe fressen…
In der aktuellen Situation gibt es einfach keine wirtschaftlichen Lösungen mehr. Den unabhängigen Konzertveranstaltern, Clubs und Kulturzentren helfen Kredite nicht weiter. Sie können ja schlecht nach dem Ende der Corona-Krise einfach mehr produzieren – die Clubs können in ein paar Monaten ja nicht mir nichts dir nichts doppelt so viel Getränke verkaufen, und die Zahl der möglichen Konzerte in jeder Stadt ist sowohl dadurch begrenzt, daß es nun mal nur eine begrenzte Anzahl von Clubs und Hallen gibt (die in Großstädten zudem seit Jahren geringer wird, Stichwort Clubsterben), als auch dadurch, daß die Besucher*innenzahl limitiert ist und sich nicht beliebig steigern läßt.
Sollten zum Beispiel im Herbst dieses Jahres oder 2021 ausgefallene Konzerte der aktuellen Saison nachgeholt werden, sind das ja zusätzliche Konzerte zu den ohnehin in diesen Zeiträumen bereits gebuchten Konzerten. Die Fans werden aber kaum zwei Konzerte pro Abend besuchen. Wie man es auch rechnet – die aktuell ausfallenden Konzerte werden zu nicht mehr revidierbaren Einnahmeausfällen verfügen.
Es geht in der Konzertszene, und dort vor allem den kleinen und mittleren Firmen, Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen, schlicht um die Existenz! Seit März keine Konzerte mehr, absehbar mindestens sechs, möglicherweise sogar noch mehr Monate mit null Einnahmen – wie soll das gehen?
Und was passiert mit all den charmanten kleinen und mittleren Festivals, die die musikalische, also kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft überhaupt erst garantieren? Also zum Beispiel Haldern Pop, Moers, Immergut, Puch und wie sie alle heißen?
Und Open Air-Reihen oder Zeltfestivals, vom Hamburger Stadtpark über die Berliner Zitadelle bis zu Tollwood München?
Es droht eine Vielzahl von Betriebsschließungen, Konkursen und Betriebsaufgaben nicht nur bei Veranstaltern und Betreibern von Musikspielstätten, sondern auch im breiten Umfeld der Zulieferer. Es ist Eile geboten, wenn die Infrastruktur der Konzertszene gerettet werden soll.
In dieser Situation benötigt die unabhängige Konzertwirtschaft tatsächlich Hilfe. Und zwar neben den vielen sehr ehrenwerten solidarischen Initiativen (von Karsten Jahnkes Quaratunes bis zur Aktion United We Stream der Berliner Clubcommission) eben vor allem massive staatliche Hilfe.
Benötigt wird ein großzügig ausgestalteter Nothilfefonds, der die besonderen Bedingungen der Kulturszene berücksichtigt, also die ganze bunte Vielfalt all der Menschen, die das Land mit dem Grundnahrungsmittel „Kultur“ versorgen.
Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, hat es dieser Tage auf den Punkt gebracht: „Der Kulturbereich spürt die verheerenden Wirkungen der Seuche gleich dreifach. Wie alle Menschen sind wir von gesundheitlichen Risiken der Pandemie betroffen, zusätzlich können viele Kulturschaffende ihrer Arbeit, die sehr oft viel mehr als nur Broterwerb ist, nicht mehr nachgehen und die wegbrechenden Einnahmen bringen viele Kulturunternehmen und Solokünstler in existenzielle Not.“
Soforthilfen reichen nicht, gefordert sind Taten
Das Soforthilfepaket der Bundesregierung ist ein erster Schritt, die besonderen Bedingungen der Kulturbetriebe und der Kulturschaffenden sind darin allerdings nicht berücksichtigt, und die Lösungsvorschläge sind noch oberflächlich, unverbindlich und eher wenig überzeugend.
Es wäre hilfreich, wenn sich die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU), die derzeit ja in jedes irgendwo herumstehende Mikrofon zu sprechen scheint, energisch für ein spezielles und langfristig ausgerichtetes Kultur-Hilfspaket einsetzen würde, für einen Kultur-Soforthilfe-Fonds der Bundesregierung. Mit schönen Worten, die nichts kosten, ist niemandem geholfen.
Es reicht nicht, die Schirmherrschaft über den löblichen Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung zu übernehmen (und null Euro Bundesmittel dazu gegeben…), gefordert sind Taten!
In keinem anderen Bundesland wurde dem unabhängigen Kulturbetrieb so entschieden und so vehement geholfen wie im Land Berlin. Was Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) und die R2G-Koalition dort geleistet haben, verdient allergrößten Respekt: In wenigen Tagen wurden 1,3 Milliarden Euro Soforthilfe mobilisiert und Hunderttausenden geholfen, vor allem den Solo-Selbständigen und kleinen Kulturfirmen mit weniger als 5 Mitarbeiter*innen, die vom Land Berlin binnen 3-4 Tagen eine Soforthilfe in Höhe von je € 5.000 erhielten.
In Hessen dagegen erhielt der gleiche Personenkreis nur „bis zu € 1.000“, und das auch nur, wenn keine anderen Liquiditätshilfen wie Kredite oder Steuerstundungen zur Verfügung standen. In anderen Bundesländern werden geringere Gelder an Kulturschaffende nur als Zuschuß ausgezahlt, teilweise erst nach Prüfung der Vermögenssituation, also nach Hartz 4-Kriterien.
Und Soloselbständige, die jetzt auf Grundsicherung angewiesen sind, erwartet nach wie vor ein demütigendes Martyrium aus Bürokratie, Kontrollgesellschaft mit entwürdigenden Verhörmethoden und aus wirtschaftlicher Unsicherheit – wer über eine private Altersversorgung, eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder zur Ausübung des Berufs notwendige Vermögenswerte wie zum Beispiel ein teures Musikinstrument oder ein Auto verfügt, gilt weiterhin als „erheblich vermögend“ und erhält keine Grundsicherung (das alles ist natürlich ein Martyrium, dem alle Grundsicherungsempfänger*innen ständig ausgesetzt sind, ein Skandal per se!).
In dieser besonderen Situation hat sich gezeigt, daß für den so häufig gescholtenen Berliner Senat die Förderung unabhängiger Kultur keine bloße Worthülse ist. Das belegt auch ein weiteres Hilfspaket von 30 Millionen Euro, das der Berliner Senat an Gründonnerstag für die mittelgroßen Akteure auf den Weg gebracht hat; privaten Theatern und mittleren Konzertveranstaltern, die für die kulturelle Vielfalt einstehen, wird so geholfen.
Ähnlich können Kulturschaffende in Nordrhein-Westfalen und in Hamburg von Hilfsmaßnahmen ihrer jeweiligen Landesregierungen profitieren. Doch all diese Soforthilfen sind natürlich nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, und es werden Maßnahmen benötigt, die die Kulturszene langfristig sichern.
Gutscheine sind keine Lösung
Zuletzt: Was ist von der Möglichkeit zu halten, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, nämlich, daß die Veranstalter von Konzerten vor dem 8.März erworbene Eintrittskarten den Kunden nicht erstatten müssen, sondern stattdessen Gutscheine für künftige Konzerte ausstellen können? Dieses Procedere sieht auf den ersten Blick wie eine Unterstützung für die Szene aus, ist aber aus mehreren Gründen problematisch.
Durch derartige Gutscheine geben die Musikfans den Konzert- und Festivalveranstaltern ja faktisch einen zinslosen, bis längstens 31.12.2021 währenden (Zwangs-)Kredit.
Zunächst ist die Frage zu stellen, warum hier die Großkonzerne der Konzertwirtschaft ebenso berücksichtigt werden sollen wie die unabhängigen Veranstalter, Clubs und Kulturzentren.
Warum sollen Fans, die vielleicht selbst gerade von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit betroffen sind und in finanziellen Problemen stecken, beispielsweise Konzernen wie CTS Eventim (EBIT, also Bruttogewinn 2019: über 230 Millionen Euro) oder Live Nation (Betriebsergebnis 2019: 325 Millionen US-$) zinslose Kredite gewähren? Zumal derartige Großkonzerne wie etwa die Berliner DEAG ja stolz berichtet haben, daß sie über Ausfallversicherungen auch im Fall von Epidemien verfügen – es waren übrigens die Fans, die diese Versicherungen über den Ticketpreis finanziert haben.
Man sollte doch wohl erwarten dürfen, daß Konzerne, die ihre Absage-bedingten Einnahmenverluste mittels Versicherungen abgewendet haben, den Fans umgehend ihre Tickets erstatten, statt sie zur Annahme von Gutscheinen zu zwingen.
Zweites Problem: Ist es wirklich sinnvoll und fair, wenn die Veranstalter den Fans eines bestimmten Konzerts, das ausfällt, einen Gutschein ausstellen, der nur für ein anderes Konzert einlösbar ist?
Es gibt sicher Fans, die viele Konzerte besuchen und die einen derartigen Gutschein problemlos einzulösen wissen, es gibt aber auch viele Fans, die nur selten in Konzerte gehen und eben gerade dieses eine bestimmte Konzert, für das sie eine Eintrittskarte gelöst haben, erleben wollten – was sollen sie mit dem Gutschein für ein beliebiges anderes Konzert?
Außerdem ist diese Gutscheinpolitik nur eine Art Herauszögern des Problems. Die Veranstalter vermögen zwar aktuell ihren Cashflow zu sichern, müssen aber dann, wenn das Konzert zum Beispiel im nächsten Jahr stattfinden wird, trotzdem Gagen und Kosten, die mit just diesem Konzert zusammenhängen, finanzieren.
Die Lösung ist eher alchemistisch und kommt einem wie das Verlegen eines Geldbetrags von der einen in die andere Hosentasche vor, wobei das Risiko bei einer eventuellen (und leider aus den beschriebenen Gründen nicht einmal völlig unwahrscheinlichen) Insolvenz der Veranstalter allein bei den Fans liegt; das Mindeste sollte eine Regierungsgarantie, eine Art „Sicherungsschein“ für derartige Gutscheine sein, falls das ausstellende Unternehmen zahlungsunfähig wird.
Sinnvoll ist eine Gutscheinlösung, die dann eher ein „Behalte dein Ticket!“ darstellt, lediglich bei den kleinen unabhängigen Veranstaltern, den Clubs und den soziokulturellen Zentren.
Da können sich die Fans sicher sein, daß der Verzicht auf eine sofortige geldwerte Erstattung tatsächlich der Kulturarbeit und den Musiker*innen und Beschäftigten zugutekommt und nicht in den Kassen der Konzerne verschwindet.
Ähnlich ist es bei der Verschiebung von Konzerten auf einen konkreten neuen Termin – da hilft es Veranstaltern und Künstlern natürlich, wenn die Fans ihre Tickets für das später stattfindende, nur verlegte Konzert nicht zurückgeben.
Und im Einzelfall werden faire Veranstalter vor allem für all diejenigen Fans, die selbst wirtschaftliche Probleme haben, auch faire Lösungen finden (was allerdings zusätzlichen Personaleinsatz in wirtschaftlich schwierigen Zeiten verlangt…).
Es wird Zeit, daß wir wieder zu einem Grundgedanken des Konzertwesens zurückfinden, nämlich dem gleichberechtigten Miteinander von Musiker*innen, Veranstalter*innen und Fans.
In den letzten Jahren ist dieses Verhältnis angesichts des unbarmherzigen Geschäftsgebarens der großen Konzert- und Ticketingkonzerne immer mehr ins Mißverhältnis zuungunsten der Fans gerückt, nicht zuletzt durch völlig übertriebene Ticketgebühren, von denen nur die Plattformen profitieren, nicht aber all diejenigen, die die eigentliche Arbeit machen, nämlich die Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen.
Ich halte es nicht für fair, wenn die Fans, von denen die Konzertwirtschaft letztlich lebt, mit Gutscheinen abgespeist werden (und sie am Ende sogar noch die Ticketgebühr doppelt bezahlen müssen). Allerdings freue ich mich über alle Konzertliebhaber*innen, die freiwillig und aus Solidarität mit den unabhängigen Veranstaltern, Clubs und Kulturzentren ihre Karten behalten und so die lebendige unabhängige Musikszene unterstützen!
Statt der eher dubiosen allgemeinen Gutscheinregelung bleibt ein Nothilfefonds zur Absicherung von Konzertveranstaltern, Clubs und Kulturzentren zweifelsohne die sinnvollere Lösung, gerade weil ein derartiger Fonds auch langfristig die Konzertszene sichern würde.
Und außerdem sollten die Großkonzerne der Konzertbranche, die in den letzten Jahren gigantische Imperien aufgebaut haben, ihren Anteil zur Sicherung der Konzertszene leisten. In den USA hat Live Nation immerhin eine Art Fonds zur Nothilfe für die Konzert-Arbeiter*innen aufgelegt, zunächst stehen fünf Millionen US-$ für die Crews der Tournee- und Konzertproduktionen zur Verfügung, also für Tourmanager, Produktionsleiter, Techniker, Stagehands, Backliner, Bühnenarbeiter und all die anderen, die das Rückgrat des Konzertwesens darstellen.
Vom deutschen Großkonzern CTS Eventim und seinen vielen Tochterfirmen ist bislang keine entsprechende Solidaraktion bekannt.
Allerdings: Die Live Nation-Aktion ist begrüßenswert, man sollte sich jedoch keine Illusionen über deren Promotioneffekt machen. Und Live Nation beansprucht laut eigenen Angaben selbst staatliche Hilfen für Kurzarbeit in den meisten europäischen und asiatischen Märkten, unter anderem auch in Deutschland. Auch in Krisenzeiten werden Wölfe immer Wölfe bleiben…
Berthold Seliger ist Publizist und seit 32 Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter. Dieses Jahr plante er u.a. Tourneen von Patti Smith, Rufus Wainwright. In Büchern wie Das Geschäft mit der Musik (2013, aktuell 7.Auflage) und Vom Imperiengeschäft (2019, aktuell 3.Auflage, beide erschienen bei Edition Tiamat) hat er sein Insiderwissen geteilt und die Realität des Musikgeschäfts beschrieben und analysiert.