In einer Welt im Umbruch sind Worte eine mächtige Waffe. Sie schüren Angst und bauen Mauern. Wenn Gier und Hass übernehmen, brauchen wir wohl weisere Redner. Kate Tempest reicht uns die Hand: nur Mut und Empathie können uns noch retten.
1 Stadt, 1 Uhrzeit, 7 Menschen, 7 Perspektiven. London, 4:18 Uhr, nicht mehr tiefste Nacht, noch nicht ganz Morgen. Auch in einer Stadt mit fast 9 Millionen Menschen kann man verdammt einsam sein. In einer Zeit, in der wir hunderte Freunde in sozialen Netzwerken haben und doch ihren Geburtstag vergessen, wenn uns genau diese Netzwerke nicht daran erinnern, hat das Alleinsein in der Masse das Absurde verloren.Wir haben uns damit abgefunden. Kate Tempest nicht. Sie führt diese 7 Charaktere auf einem Album zusammen zu einem beeindruckenden Statement gegen die Zeichen unserer Zeit.
Die Theater- und Romanautorin, Rapperin und Poetin Kate Calvert hat ihren Künstlernamen gut gewählt. Ihr schneller Flow und die Wucht ihrer Worte haben bisweilen tatsächlich etwas bedrohliches. In Form und Inhalt weckt Kate Tempest natürlich Assoziationen zu Anne Clark, der großen Ikone des Spoken Word. Gleich der Opener „Picture A Vacuum“ zwingt diesen Vergleich dank Intonation und Duktus regelrecht auf und wie einst Clark ist Tempest heute das Bindeglied zwischen Underground und Mainstream.
Ihre Sprache, ihr Habitus, die Offenheit anderen Kunstformen gegenüber und nicht zuletzt ihre Wurzeln im Hip Hop machen sie interessant für Leute, die sich sonst wohl eher nicht mit Lyrik in dieser Form befassen würden. Poetry Slams öffneten dem Genre die Tür, Tempest teert nun die Straße. Schon ihr Debüt „Everybody Down“ (2014) erhielt erfreulich große Aufmerksamkeit und wurde von der Kritik gefeiert. Mit ihrem zweiten Album könnte sie jetzt ein noch breiteres Publikum erreichen: „Ketamine For Breakfast“ oder „Grubby“ funktionieren auch bestens im Club.
In Zeiten ungebremsten Machthungers großer Konzerne, angesichts überwunden geglaubter Phänomene wie der völligen Abschottung vor dem Fremden und Katastrophen wie Brexit oder Trump kann man wohl wirklich den Glauben an das Gute im Menschen verlieren. Kate Tempest tickt anders. Sie glaubt fest an die positive Kraft in uns allen und hat den Willen, die Welt zu einer besseren zu machen als sie es derzeit ist.
Diese Überzeugung verpackt sie musikalisch gesehen in ein genial einfaches Gewand: die Beats sind kalt und trocken, schmückendes Beiwerk gibt es nicht. Nichts soll und darf ihre Worte stören und nur selten gelingt diese Subtraktion so perfekt wie hier. Lyrisch spielt sie in ihrer eigenen Liga, die Botschaften sind ebenso eindeutig wie intelligent, meist politisch und geprägt von einer aufrichtigen Liebe für den Menschen als leider meist schwaches und egoistisches Wesen.
Angesichts dessen, was Tempest hier abliefert, möchte man den Verfassern der hierzulande im Hip Hop so gern beklatschen „Ich bin sogar noch asozialer als du“-Lyrics in aller Deutlichkeit zurufen: sein lassen! Ihr Gespür für Sprache und die Eindringlichkeit ihres Vortrags machen Kate Tempest zu einer der spannendsten Künstlerinnen der Gegenwart. „Let Them Eat Chaos“ lässt den gängigen Durchschnitt zu weiten Teilen in der Belanglosigkeit verschwinden und ist ohne Frage eines der aufregendsten und wichtigsten Alben des Jahres. Großartig!