Auf „Kamikaze“ bekommen wir einen erstarkten Eminem zu hören, der auf lyrischem Top-Level und mit ein paar Tiefschlägen gegen Fans, Kritiker und Rap-Kollegen schießt. „Revival“ war gestern – Slim Shady is back!
Audio: Eminem – Kamikaze
Relapse, Recovery, Revival und schlussendlich doch besser „Retirement“? Wie viele andere Fans und Kritiker konnten auch wir im Dezember 2017 unsere maßlose Enttäuschung über Eminems neues Album nicht verstecken. Lyrisch zwar an vielen Stellen weiterhin auf hohem Niveau, sorgten die farblosen Pop-Kollaborationen, einige Fremdscham-Zeilen, altbackene Produktionen und fragwürdige Sample-Einsätze jedoch dafür, dass „Revival“ an vielen Stellen nahezu unhörbar wurde.
Acht Monate später holt Eminem zum Gegenschlag aus. Er veröffentlicht ohne Vorankündigung sein neues Album „Kamikaze“. Produziert von Dr. Dre, Features von Justin Vernon (Bon Iver), Royce Da 5’9″, Joyner Lucas und Jessie Reyez, sowie eine offensichtliche Cover-Referenz zu „Licensed to Ill“ von den Beastie Boys. Die Vorzeichen stehen gut.
Und bereits nach wenigen Tracks wird klar: Slim Shady is back. Eminem packt den Migos-Flow, die Dad-Joke-Wortspiele und die Pop-Tracks wieder in den Schrank und präsentiert sich stattdessen in Bestform.
Aggressiv, angriffslustig und lyrisch auf absolutem Höchstlevel schießt Eminem auf seiner Kamikaze-Tour gegen Kritiker, Fans und Rap-Kollegen. Er mischt neue und alte Stile und spätestens bei den „Paul“-Skits dürfte wohl jedem „Marshall Mathers LP“-Fan das Herz aufgehen.
ACT DES MONATS
Dass Atmosphäre und Stimmung im Rap heutzutage wesentlich wichtiger sind als Lyrics, zeigt beispielsweise der enorme Erfolg von Travis Scotts „Astroworld“ – Eminem stellt jedoch eindrucksvoll klar, dass Technik-Rap nichts an seiner Schlagkraft eingebüßt hat. Der Inhalt sowie Eminems herausragende Technik sorgen dafür, dass man jeder neuen Zeile entgegenfiebern kann.
Video: Eminem – Fall
Ernüchterung tritt lediglich dann auf, wenn Eminem – in diesem Fall ebenfalls ganz der Alte – auf einem der besten Tracks des Albums („Fall“) homophob gegen Tyler, The Creator schießt.
„Tyler create nothin‘, I see why you called yourself a [faggot], bitch
It’s not just ‚cause you lack attention
It’s because you worship D12’s balls, you’re sack-religious
If you’re gonna critique me, you better at least be as good or better
Get Earl the Hooded Sweater
Whatever his name is to help you put together
Some words, more than just two letters
The fans waited for this moment like that feature when I stole the show (ha), sorry if I took forever (haha)“ (Eminem – „Fall“)
Songwriting-Partner Justin Vernon entschuldigte sich via Twitter bei seinen Fans für den verbalen Ausrutscher und distanzierte sich von der Entscheidung, den Track so zu veröffentlichen.
„Was not in the studio for the Eminem track… came from a session with BJ Burton and Mike Will. Not a fan of the message, it’s tired. Asked them to change the track, wouldn’t do it. (…) Eminem is one of the best rappers of all time , there is no doubt. I have and will respect that. Tho, this is not the time to criticize Youth, it’s the time to listen. To act. It is certainly not the time for slurs. Wish they would have listened when we asked them to change it.“ (Justin Vernon auf Twitter)
Offenbar wächst die Sensibilität, welche Wortwahl man für Minderheiten, denen man zufällig nicht angehört, verwendet. Es stellt sich die Frage, weshalb Eminem selbst wohlgemeinte Kritik scheinbar so wenig nachvollziehen kann.
Vielleicht müssen wir sogar froh über diesen Umstand sein. Offensichtlich braucht es zuerst einen verärgerten, in Ecke gedrängten und gekränkten Eminem, damit wir Slim Shady in Höchstform zurückbekommen. Lyrics, Beats, Flows – Eminem kann es alles noch.
Ein Eminem auf Top-Level gehört zwefeils zu den besten Rap-Künstlern die wir jemals hören werden. Deshalb ist „Kamikaze“ nicht nur Eminems beste Veröffentlichung seit „The Eminem Show“, sondern auch die perfekte Antwort an all diejenigen, die ihm nach „Revival“ seine Anwärterschaft auf den „Greatest Of All Time“-Titel absprechen wollten.