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Tocotronic – Golden Years: Zwischen Hoffen und Bangen (Album der Woche)

Tocotronic kehren auf ihrem neuen Album „Golden Years“ mit einem melancholischen Blick auf das Altern, die Sterblichkeit und die Widersprüche des Lebens zurück.

Die Platte eröffnet mit dem stillen, introspektiven Stück „Der Tod ist nur ein Traum“, in dem Sänger Dirk von Lowtzow die eigene Vergänglichkeit thematisiert. Seine Stimme, immer leicht ironisch und betont näselnd, schwebt über einer minimalistischen Basslinie und sanften Gitarrenklängen. Eine fast hypnotische Einladung, über das Ende des Lebens nachzudenken – oder eben nicht: „Weine nicht / Der Tod ist nur ein Traum“. Dieses lakonische „fast“ Vertrauen zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte, die immer wieder Verzweiflung und Hoffnung gegeneinander ausspielen.

Einer der stärksten Momente des Albums ist die Single „Denn sie wissen, was sie tun“, ein wütender, doch widersprüchlicher Protestsong gegen rechte Demagogen. Mit schneidenden Zeilen wie „Diese Menschen sind gefährlich“ oder „Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt“ positioniert sich die Band klar.

Neben der politischen Haltung widmen sich Tocotronic auf „Golden Years“ aber auch den flüchtigen Momenten des Glücks. „Bleib am Leben“ oder „Vergiss die Finsternis“ wirken wie Durchhalteparolen in einer düsteren Welt. Doch die Optimismusbekundungen bleiben gebrochen: „Vergiss die Finsternis“ ist mehr ein trotziges Flüstern als eine echte Überzeugung, während „Bye-bye Berlin“ das „Partying at the end of history“ treffend beschreibt – ein Abgesang auf die Großstadt und ihre ausgelutschte Mythologie. Kein Zweifel: Die goldenen Jahre sind endgültig vorbei. Und das nicht nur in Berlin.

„Bye-bye Berlin, dein Berghain brennt
Feuer verzehrt sein Fundament
Bye-bye Berlin, und Schluss mit Uckermark
Ein letzter Kuss im Business-Park“

Gitarrist Rick McPhail hat nach der Albumaufnahme eine Pause auf unbestimmte Zeit angekündigt aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen. „Wir wünschen Rick alles Gute für die nahe Zukunft und bitten aus Rücksichtnahme auf seine Privatsphäre, auf weitere Rückfragen zu verzichten“ ließen die drei Gründungsmitglieder verlauten.

ACT DES MONATS

Provinz (Presspic 2025, Fotocredit: Rufus Engelhardt, Shana Purnama)
Provinz (Foto: R. Engelhardt, S. Purnama)

 

Unter der Produktion von Max Rieger (Die Nerven) klingen Tocotronic polierter als zuletzt, aber auch weniger abenteuerlustig. Viele Tracks, etwa „Der Seher“ oder „Mein unfreiwillig asoziales Jahr“, bauen auf dem vertrauten Wechselspiel von melancholischen Melodien und ironischen Texten auf, vieles klingt einen Tick zu erwartbar. „Golden Years“ ist vor allem eine Platte für langjährige Fans. Doch wir alle wissen, dass Musik zur Selbstvergewisserung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, heute nicht mehr ausreicht.

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Diskografie Tocotronic

Auf ganze 14 Studioalben bringen es Tocotronic inzwischen. Genauso viele wie The Cure. Und fast alle Alben sind in den Top 10 der deutschen Albumcharts gelandet. Wir blicken zurück auf die einzigartige Karriere der Band, die 1993 in Hamburg begann.

Digital ist besser (1995)

Aus dem Debüt-Album „Digital ist besser“ aus dem Jahr 1995 und definitiv eine der wichtigsten Live-Hymnen aus dem Repertoire Tocotronics stammt das legendäre „Drüben auf dem Hügel“: Ein Song, der wie kaum ein anderer die Jugend zurückbringen vermag – „Ich warte dort auf Dich weil ich Dich mag / An unserem letzten Sommerferientag / Bis wir zusammen sind – bis wir / Bis wir zusammen sind – bis wir / Bis wir zusammen sind – bis wir“.

Nach der verlorenen Zeit (1995)

Nur vier Monate nach dem Erstling eschien dieses Album, dessen Titel auf den Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust anspielt: Und überhaupt sind die Songs voller Anspielungen, auch auf die Reaktionen zum Debüt „Digital ist besser“ und zur „Lage der Nation“…

Wir kommen um uns zu beschweren (1996)

Und wieder ein Album voller sloganfähiger Titel: Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E. Smith“, „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ und „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“, das mindestens zweimal im Jahr wieder in den Sozialen Netzwerken gepostet wird…

Es ist egal, aber (1997)

Der rohe Sound der Anfangsjahre verschwindet langsam auf dem vierten Album, textlich markiert es den Anfang zum Erwachsenwerden und musikalisch sind erste Brüche mit Synthies und Streichern zu hören, für die der österreichische Produzent und Musiker Hans Platzgumer verantwortlich zeichnet.

K.O.O.K. (1999)

Mit AC/DC-Anspielung und Fanfaren aus Europes „The Final Countdown“ überraschen Tocototronic auf ihrem fünften Album: Die Lyrics werden abstrakter, der Gesang entspannter und erstmals gibt es zu den Songs auch ein Doppel-Remixalbum namens „K.O.O.K.variationen“ https://tocotronic.bandcamp.com/album/k-o-o-k-variationen, auf dem unterschiedliche Electrokünstler wie Erobique oder legendär Tocotronic vs. Console in „Freiburg V3.0“ die Songs von K.O.O.K. covern.

Tocotronic (2002)

2002 erscheint dieses selbstbenannte oder das „weiße“ Album mit der distinktiven Zeile „Eins zu Eins ist jetzt vorbei“ – Die Parolen weichen lyrischeren Texten und in dem Song „Hi Freaks“, der sich unweigerlich in Herz und Hirn schraubt mit Worten wie „Was wir sehen bedeutet nichts / Der sogenannte Realismus / Fällt nicht weiter ins Gewicht“.

Pure Vernunft darf niemals siegen (2005)

Die dreizehn Stücke klingen insgesamt sehr viel melodiöser und ausgewogener als vorherige Werke. Grund dürfte der langjährige Tour-Keyboarder Rick Mc Phail sein, der als mittlerweile vollwertiges Bandmitglied eine zweite Gitarre in das Geschehen bringt. In nur neun Tagen wurde dieses Album als Liveband eingespielt. Keine langwierige, verkopfte Studioarbeit also. Dafür eine enorme Bewegung in die Tiefe, hin zum gekonnten Popsong, der lieb gewonnene Konventionen genauso achtet wie auch umgeht. Der Titelsong klingt wie eine Antwort auf Kant und die Kälte des Kapitalismus: Ein nonchalantes „Lallalalalala“ umrahmt die pointierten Zeilen des Songs, die in einem Versprechen enden, das da lautet: „Wir sind so leicht, dass wir fliegen“. Eine Hymne gegen den Optimierungszwang und für den Optimismus des leichten Seins.

Kapitulation (2007)

Vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 2007 stammt dieser Appell der ersten Single: In Würde scheitern, dann vielleicht neu beginnen. Tocotronic wechselten mit diesem Werk zu Universal, die Geschichte ihrer Kapitulation katapultierte sie zu noch größerem Erfolg. Für von Lowtzow hat das Lied darum auch etwas „“Euphorisches“ und „Gospelhaftes“.

Schall & Wahn (2010)

„Aber hören? Nein, Danke!“ Nicht jeder umarmt ein neues Tocotronic-Album so bedingungslos wie große Teile des Feuilletons und der Pop-Presse. In der Tat war die erste Single aus „Schall & Wahn“ eine zu kalkulierte Fortsetzung der „Kapitulation“, so dass Skepsis gegenüber dem neuen Album durchaus angebracht scheint. Dabei machen Tocotronic mit ihrem neuen Album da weiter, wo sie immer angeknüpft haben, wenn sie sich zu sehr vereinnahmt fühlten: sie verweigern sich. „Eure Liebe tötet mich“, deutlicher könnte eine Absage an den Jubel, der Tocotronic seit „Kapitulation“ (wieder) zuteil wird, nicht sein. Und schon ist man mittendrin.

Wie wir leben wollen (2013)

20 Jahre Tocotronic, Studioalbum Nummer zehn – Der rechte Zeitpunkt für die Band musikalisch in ein neues Zeitalter zu treten? Vorbei die Tage, als Arne Zank keinen Takt halten konnte und von Lowtzow die Slogans für eine Generation zwischen Grunge und Rezession formulierte. Auf allen Ebenen so elaboriert wie noch nie, macht es einem „Wie wir leben wollen“ nicht gerade leicht.

Tocotronic (2015)

Der Hamburger Schule längst entwachsen präsentieren Tocotronic auf ihrem „roten Album“ Lieder über die Liebe. Musikalisch haben es sich Tocotronic diesmal in den frühern 80ern gemütlich gemacht und zitieren alte Lieblingsbands wie The Smiths, The Fall oder Joy Division.

Die Unendlichkeit (2018)

Wie man auf dem mittlerweile zwölften Album und mit über 40 Jahren noch drängend und direkt klingen kann, zeigen Tocotronic auf “Die Unendlichkeit” auf beeindruckende Weise: Ungewohnt autobiografisch birgt das Konzeptalbum auch Risiken der Peinlichkeit, doch diese umschiffen die Hamburger lässig.

Nie wieder Krieg (2022)

Pop, Parolen und Pandemie: Tocotronic gelingt mit ihrem 13. Album ein schillernder slogangepackter Soundtrack zum Irrsinn unserer Zeit und zu unseren irrlichternden Ichs. Die Intensität der Songs sind vielleicht auch der langen Entstehungszeit geschuldet und dauerte zwei innerliche Jahre an, während die Welt sich draußen drehte und zu zerreißen drohte. Tocotronic kleben auf jede einzelne Wunde ein Pflaster aus Pop-Parolen.


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