Als in Großbritannien die Losung noch Cool Britannia statt Brexit lautete, war die Musik in den Neunzigerjahren auf der Insel noch hedonistisch und mitreißend: Britpop war das Ding der Stunde und auch gefühlt stündlich debütierte eine neue spannende Band nach der anderen.
Nicht nur der von NME & Co. medial aufgeheizte Kampf zwischen Oasis und Blur, der wohl als Mutter aller “Battle of the Bands” gelten kann, ist ein Merkmal des Britpop. Kennzeichnend sind vielmehr catchy Songs mit kämpferischen und cleveren Texten. Nicht ganz so schlau erscheint im Rückblick die Aussage Noel Gallaghers von Oasis hinsichtlich der Erzfeinde Blur: „Der Gitarrist ist ganz ok, aber der Bassist und der Sänger sollen an AIDS sterben“. Die erste Runde des Kampfes gewannen damals Blur, die mit „Country House“ Platz 1 der britischen Charts erreichten, während Oasis, die am selben Tag ihren Song „Roll With It“ veröffentlichten nur auf Platz zwei landeten.
Britpop ist natürlich kein Genre, der Begriff fasst eher einen Zeitgeist und um ganz genau zu sein, beschreibt er das Jahr 1995 in Großbritannien, in dem immer noch Kategorien wie „Working Class“ (dieser wurde Oasis zugerechnet) und „Middle Class“ (Blur war deren Vertreter) wichtig sind und sowohl Gesellschaft, Musik, Fußball als auch Politik durchziehen. Insgesamt ist man jedoch stolz auf britische kulturelle Errungenschaften, Bands zeigen sich selbstbewusst mit dem Union Jack – eine Tatsache für die Morrissey noch kurz zuvor von denselben Musikzeitschriften harsch angegriffen wurde: Nun inszeniert das „Select Magazine“ selbst Suede-Sänger Brett Anderson mit Flagge und dem Satz „Yanks go home!“.
Die Medien prägten fortan den Slogan der „Third British Invasion“ (deutsch: dritte britische Invasion) nach dem ersten Hype um Bands der 1960er und 1970er wie The Beatles und The Rolling Stones und dann in den 1980ern Indie-Acts wie The Smiths oder The Stone Roses. In den 1990ern folgten also Oasis, Blur, Suede, Pulp und viele mehr. Und heute? Die britische Musik scheint bedeutungsloser geworden, statt einer Invasion – eines neuen musikalischen Vorstoßes, wählte man den Brexit – den Rückzug.
Hier kommen die (subjektiv) zehn besten Songs der Ära Britpop:
10. SLEEPER – INBETWEENER
ACT DES MONATS
In Sängerin Louise Wener musste man sich einfach verlieben und dieser Song über so genannte „Zwischenlösungen“ frisst sich mit der typischen Britpop-Catchiness charmant in den Gehörgang:
9. THE BOO RADLEYS – WAKE UP, BOO!
Hier ist die offensiv vorgetragene Fröhlichkeit nur ein weiterer Beweis von typisch britischem Humor, denn während Optimismus in den Textzeilen gefeiert wird („Wake up, it’s a beautiful morning“) wird, folgt kurz darauf die pessimistische Einschätzung („You have to put the death in everything“). Dennoch, der Song macht einfach automatisch gute Laune:
8. ASH – GIRL FROM MARS
Auch Nordiren trugen einen Hit zum Britpop-Wunder bei und mit diesem Song schaffte die Band Ash ihren Mainstream-Durchbruch: Das Lied über eine Fantasie-Romanze mit einem außerirdischen Mädchen ist ein unwiderstehlicher und ungeheuerlich kraftvolles Pop-Punk-Stück.
7. THE AUTEURS – LENNY VALENTINO
Die wahrscheinlich unterschätzteste Band dieser Zeit: Das Lied über Rudolph Valentino, den Superstar der Stummfilmzeit, ist eine schlaue Mischung aus Glam, Indiepop und Alternative. Sänger Luke Haines hat später wie kein anderer die Britpop-Phase in seinen Memoiren „Bad Vibes: Britpop and My Part in Its Downfall“ perfekt analysiert und seziert.
6. THE VERVE – BITTER SWEET SYMPHONY
Der Erfolg dieses Songs wurde für die Band tatsächlich zur bitter-süßen Erfahrung: Das Lied basiert auf einem Sample des Andrew Oldham Orchester, das den Rolling-Stones-Hit „The Last Time“ spielt. Es folgten Rechtsstreitigkeiten und Streitigkeiten in der Band, die sich kurz nach dem Erfolg auflöste. Dennoch: Wer kennt heute das Andrew Oldham Orchester und wer diesen Song?
5. ELASTICA – STUTTER
Roh, rotzig und rasant kurz: So schrammelten sich Elastica durch die weitgehend männliche Britpop-Szene. Sängerin Justine Frischmann und Justin Welch waren zuvor Bandmitglieder von Suede, mit Bassistin Annie Holland und Gitarristin Donna Matthews gründete man eine neue Band. Nur zwei Alben machte die Gruppe, die Postpunk und Alternative in den Britpop einbrachte. Aber so viel energiegeladene Brillanz wie in „Stutter“ findet man selten im Pop.
4. PULP – COMMON PEOPLE
Aus einer Melodie auf einem kleinen Casio-Keyboard eingespielt, ist diese Hymne der britischen Working-Class erwachsen und zugleich zum mächtigen Disco-Klassiker angewachsen. Sänger Jarvis Cocker wandte sich damit gegen sozialen Voyeurismus, den er zum Beispiel auch in Blurs „Parklife“ sah. Die Frau über die er singt und die er im Text sagen lässt, „I want to sleep with common people, like you“, ist wohl real und angeblich Danae Stratou, Ehefrau des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis.
3. SUEDE – ANIMAL NITRATE
Vom Melody Maker damals zur „Best New Band in Britain“ gekürt, stürmte die Band um den androgynen und arroganten Frontman sofort alle Charts. Der immer noch schwindlig machende Opener-Riff in „Animal Nitrate“ sowie der unwiderstehliche Glam-Charakter darin, machen den Song zu einem ganz großen Stück Pop.
2. OASIS – SUPERSONIC
Mit dieser Debütsingle kamen Oasis wie ein wuchtiger Nordwind über die englische Insel: Mit demonstrativ gelangweiltem Gesang und lässiger Pose lieferten die notorischen Brüder Liam und Noel Gallagher den Startschuss zum Britpop – „Give Me Gin & Tonic“!
1. BLUR – PARKLIFE
Soviel Britishness in einem Song kann nur zu Platz 1 in dieser Liste führen: Ein Pub-Refrain zum Mitsingen, eine ironische Cockney-Spoken-Word-Einlage und leicht nerdige sowie kauzige Bandmitglieder zerlegen und zelebrieren im Clip einige Klischees über die Insel.