Mit seinem neuen Album „Sable, Fable“ (deutsch: Zobel, Fabel) schlägt Justin Vernon ein weiteres Kapitel im vielschichtigen Werk von Bon Iver auf. Dabei klingt er so gelassen und zugänglich wie nie zuvor.
Wo frühere Veröffentlichungen oft von emotionaler Schwere, formaler Experimentierfreude und einer gewissen klanglichen Kälte durchzogen waren, scheint „Sable, Fable“ von Licht durchflutet zu sein, zumindest im Vergleich zu seinen Vorgängern.
Vom Schmerz zur Sanftheit
Den Ausgangspunkt für das neue Album bildete die im Herbst 2024 veröffentlichte EP „Sable“, ein Rückgriff auf die introspektiven, melancholischen Klangwelten von „For Emma, Forever Ago“ (2008), dem Album, mit dem Bon Iver zum Kult wurde. Die Songs auf „Sable“ erinnerten stark an jene spröde Intimität, die Vernon einst in einer abgelegenen Hütte in Wisconsin einspielte und mit der er eine ganze Generation von Bedroom-Folk-Songwritern prägte. Auf „Sable, Fable“ werden diese düsteren Skizzen nun weitergedacht, umgeben von neuen Arrangements, musikalischer Wärme und einem deutlichen Hang zum Soul.
Visuell bringt es bereits das Cover auf den Punkt: Ein schwarzes Quadrat, umrahmt von einem lachsfarbenen Rahmen. Schmerz im Zentrum, aber eingerahmt von neuer Milde. Eine Metapher für das Album selbst.
Loslassen und ankommen
Die elf Songs auf „Sable, Fable“ sind geprägt von einem Gefühl der Loslösung. Justin Vernon wirkt auf diesem Album entspannter denn je. Die Melancholie ist noch da, aber sie wird nicht mehr zelebriert. Stattdessen klingt das Album, als hätte Vernon den Schmerz zwar nicht vergessen, aber gelernt, ihn zu umarmen oder zumindest mit ihm zu leben.
Diesen Eindruck vermittelt gleich der eröffnende Song „Everything Is Peaceful Love“, ein entschleunigter Soul-Track mit Pedal Steel Guitar und harmonischem Chorgesang. Ein Titel wie eine Zustandsbeschreibung, fast schon ein Mantra. Der Song erinnert in seiner Gelassenheit eher an Al Green als an die verhuschten Lo-Fi-Folk-Stücke seiner frühen Jahre.
Die Stimme im Zentrum
„Sable, Fable“ ist zugleich das bisher vokal zentrierteste Bon-Iver-Album. Vernons Falsett, ohnehin ein Markenzeichen seines Sounds, rückt noch mehr in den Vordergrund. Besonders eindrucksvoll gelingt das im reduzierten „Walk Home“, einem der stärksten Songs der Platte. Nur wenige elektronische Texturen, etwas Hall und Vernon allein in seiner unverkennbaren Stimmfarbe. Das reicht, um den Song mit einer Intensität aufzuladen, wie man sie zuletzt bei „22, A Million“ suchte.
Im Gegensatz dazu stehen die Duette mit Danielle Haim („If Only I Could Wait“) und Flock of Dimes alias Jenn Wasner („Day One“), die eine weichere, versöhnliche Note einbringen. Beide Stücke spielen geschickt mit dem Wechselspiel zweier Stimmen, die sich umkreisen, ergänzen, gegenseitig Raum geben. Es sind Songs, die von emotionaler Reife erzählen, aber ohne Pathos oder große Gesten auskommen.
Kalifornisches Licht
Seit „i,i“ (2019) ist viel passiert im Kosmos von Bon Iver. Justin Vernon hat mit Künstlerinnen wie Taylor Swift oder Charli XCX gearbeitet, sich stärker der Popwelt geöffnet, ohne dabei seine Integrität zu verlieren. Die Kollaborationen haben Spuren hinterlassen, auch auf „Sable, Fable“.
Wo früher die Kälte des Winters durch jeden Takt sickerte, klingt heute eine mildere, nach innen gewandte Heiterkeit. Statt digitaler Verfremdung setzt Vernon nun öfter auf organische Sounds, auf dezente Bläser, luftige Synth-Flächen, weiche Percussion. Alles wirkt durchlässiger, offener, weniger verkopft.
Zwischenbilanz eines Künstlers
„Sable, Fable“ lässt sich auch als Zwischenbilanz eines Künstlers lesen, der sich vom eigenen Mythos emanzipiert hat. Justin Vernon hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten fast jede Rolle durchgespielt: vom isolierten Folkmusiker zum experimentellen Klangforscher, vom Indie-Held zum Mainstream-Kollaborateur. Mit diesem Album findet er eine neue Balance zwischen Rückbesinnung und Fortschritt, Introspektion und Offenheit.
Bon Iver – Die Biografie eines Klangsuchers
Hinter dem Projekt Bon Iver steht der US-amerikanische Musiker und Produzent Justin Vernon, geboren 1981 in Eau Claire, Wisconsin. Seit dem überraschenden Erfolg seines Debüts For Emma, Forever Ago gilt Vernon als eine der prägendsten Figuren der unabhängigen Musikszene der letzten 15 Jahre. Als Songwriter, Klangtüftler und Kollaborateur bewegt er sich zwischen Folk, Elektronik und Avantgarde.
For Emma, Forever Ago (2008)
Nach dem Studium an der University of Wisconsin–Eau Claire gründete Vernon zunächst die Indie-Band DeYarmond Edison. Als sich die Band auflöste, zog er sich Ende 2006 krank, erschöpft und nach einer Trennung in eine abgelegene Hütte in den Wäldern von Wisconsin zurück. Dort entstanden in wenigen Wochen die Songs, die später unter dem Namen For Emma, Forever Ago erscheinen sollten.
Die minimalistische Produktion, seine eindringliche Falsettstimme und die melancholische Atmosphäre machten das Album schnell zum Kult. Verbreitet über Myspace und erste Musikblogs entwickelte sich Bon Iver zu einem internationalen Phänomen. Der Name stammt aus dem Französischen bon hiver, also „guter Winter“, leicht verfremdet zur eigenen Marke. Die Kälte und Einsamkeit dieses Winters, der Mythos der Hütte und die radikale Introspektion des Albums wurden zu zentralen Elementen von Vernons öffentlichem Bild.
Bon Iver (2011)
Mit dem selbstbetitelten zweiten Album verabschiedete sich Bon Iver vom Lo-Fi-Folk der Anfangstage. Statt Akustikgitarre dominieren hier orchestrale Arrangements, Synthesizer, Saxophone und weit ausgreifende Songstrukturen.
Songs wie Holocene, Towers oder Perth wirken hymnisch und fragil zugleich. Vernon öffnete seinen Sound in Richtung Cinemascope und verlor dabei nie die emotionale Tiefe. Das Album wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit zwei Grammys. Bon Iver wurde dadurch zu einer festen Größe im Indie-Kanon der 2010er Jahre.
22, A Million (2016)
Das dritte Album markiert einen radikalen Bruch mit den bisherigen Klangwelten. 22, A Million ist ein digital zersplittertes Werk, geprägt von kryptischen Songtiteln, manipulierten Stimmen, Field Recordings und spirituellen Anspielungen.
Vernon arbeitete hier nicht mehr mit klassischen Songstrukturen, sondern mit Cut-up-Techniken, Loops, Samples und fragmentierten Texten. Die Produktion erinnert stellenweise eher an experimentellen Hip-Hop oder glitchige Electronica als an Folk. Trotz oder gerade wegen dieser Radikalität wurde das Album international gefeiert. Es wurde als mutiger Schritt in die künstlerische Freiheit gelesen.
i,i (2019)
Mit i,i führt Bon Iver die Soundexperimente von 22, A Million weiter, integriert sie jedoch in einen offeneren und zugänglicheren Bandkontext. Das Album wurde größtenteils gemeinschaftlich eingespielt, unter anderem mit Mitgliedern von The National, Moses Sumney und James Blake.
Die Musik wirkt luftiger und weniger dekonstruiert. Statt einer losen Songcollage entsteht ein kollektiver Klang, der seine Vielschichtigkeit aus der Zusammenarbeit schöpft. Vernons Stimme tritt wieder stärker in den Vordergrund. Die Texte sind zugänglicher, die Arrangements vielfältiger. i,i wird oft als Abschluss einer losen Tetralogie verstanden. Sie beginnt mit For Emma und wird über die folgenden Alben zunehmend komplexer und zugleich universeller.
Sable EP (2024)
Nach fünf Jahren Pause meldete sich Bon Iver im Herbst 2024 mit einer überraschend intimen EP zurück. Sable ist eine Rückbesinnung auf die melancholischen, introspektiven Töne des Frühwerks. Die Songs wirken reduziert und fast skizzenhaft, aber nicht unvollständig.
Der Titel verweist auf Dunkelheit, Trauer und das Unausgesprochene. Ohne große Produktionsgesten konzentriert sich Vernon hier auf Stimme, Text und Atmosphäre. Die EP fungiert zugleich als emotionaler und ästhetischer Auftakt für das kommende Album.
Sable, Fable (2025)
Mit Sable, Fable erscheint im Frühjahr 2025 ein neues Studioalbum, das die düsteren Skizzen von Sable aufgreift und in wärmere, souligere Klangwelten überführt. Das Covermotiv zeigt ein schwarzes Quadrat, umrahmt von einem lachsfarbenen Rahmen. Es steht sinnbildlich für das Konzept des Albums. Schmerz bleibt im Zentrum, doch er ist eingebettet in Milde, Licht und Versöhnung.
Songs wie Everything Is Peaceful Love, Walk Home oder If Only I Could Wait zeigen Vernon in einer neuen Gelassenheit. Die Arrangements setzen stärker auf organische Instrumente wie Pedal Steel, Rhodes und zarte Bläser. Wiederkehrend ist die zentrale Rolle seines Falsetts, das mehr denn je im Mittelpunkt steht. In Duetten mit Künstlerinnen wie Danielle Haim oder Flock of Dimes zeigt sich Vernon als offener Kollaborateur und feinsinniger Arrangeur. Er stellt den intimen Moment über das große Konzept.
Kollaborationen und Kollektive
Neben Bon Iver ist Justin Vernon seit Jahren in zahlreichen Projekten aktiv. Gemeinsam mit Aaron Dessner von The National gründete er Big Red Machine, ein loses Musikerkollektiv mit zwei Alben, auf denen unter anderem Phoebe Bridgers, Robin Pecknold und Anaïs Mitchell vertreten sind.
Besondere Aufmerksamkeit erlangte Vernon auch durch seine Zusammenarbeit mit Taylor Swift auf ihren beiden Alben folklore und evermore. In exile und evermore tritt er sowohl als Sänger als auch Produzent in Erscheinung. Weitere Kooperationen umfassen Arbeiten mit Kanye West, James Blake, Moses Sumney und zuletzt Charli XCX.
Ein weiteres Herzensprojekt ist das von ihm mitgegründete Eaux Claires Festival, das in seiner Heimatstadt Eau Claire stattfindet. Es bietet eine Plattform für interdisziplinäre Kunstformen jenseits klassischer Festivalformate. Nach Berlin brachte er das Festival zwischen 2016 und 2018 im Funkhaus in der Nalepastraße.
Klang als Identität
Bon Iver steht exemplarisch für einen künstlerischen Ansatz, der Intimität, Experiment und Kollaboration miteinander verbindet. Die Alben markieren keine Brüche, sondern fließende Übergänge. Persönliches und Kollektives, Analoges und Digitales durchdringen sich dabei ständig.
Was als Rückzug begann, hat sich über die Jahre zu einem offenen, vielstimmigen Projekt entwickelt. Bon Iver bleibt dabei unverwechselbar. Justin Vernon sucht nicht nach Hits, sondern nach Wahrhaftigkeit und findet sie immer wieder neu.
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