Nach fast zwei Jahren Corona-Absagen konnten 2022 endlich wieder Konzerte ohne Beschränkungen durchgeführt werden. Doch statt endlich wieder Live-Musik zu feiern mussten zahlreiche Shows abgesagt werden. Aufgrund schwacher Vorverkäufe ließen sich einige Tourneen finanziell nicht durchführen.
Der österreichische Durchstarter Mavi Phoenix musste seine geplante Tour 2022 kurzfristig komplett absagen, obwohl er dieses Jahr als Headliner beim größten Festival der Welt, dem Donauinselfest in Wien, spielen durfte.
„Ich konnte nicht genug Tickets für meine „Marlon“ Tour verkaufen. Ich wollte die Tour so gerne spielen nach zwei Jahren Covid und nachdem ich deshalb auch schon meine letzte Tour canceln musste. Ich muss feststellen, dass sich Mavi Phoenix in den letzten Jahren stark verändert hat und ich erstmal wieder neue Fans gewinnen muss.“
Mavi Phoenix / Instragram
Während Mavi Phoenix das nachlassende Interesse an seinen Shows auf seine Transition von Frau zu Mann und die damit auch veränderte musikalische Ausrichtung zurückführt, können die Indiehelden Tocotronic sich nicht darauf berufen. Sie mussten zwar nicht die ganze Tour, aber einige Termine absagen. Und das obwohl ihr Album „Nie Wieder Krieg“ Anfang des Jahres bis auf Platz 2 der deutschen Albumcharts kletterte.
„Mit großem Bedauern müssen wir euch heute verkünden, daß wir unsere Oktober-Live-Termine verschieben müssen. Die genauen Daten entnehmt ihr bitte der Grafik. Wir wollen ganz ehrlich sein: Im Augenblick sind die Vorverkäufe zu schwach, als daß sich eine Durchführung der Tour für die Clubs, die örtlichen Veranstalter*innen, uns und unsere Crew gerechnet hätte. Die Zeiten sind wohl nicht danach, viele Künstler*innen machen gerade ähnlich schmerzhafte Erfahrungen.“
Tocotronic / Instagram
Auch die Kölschrockband Kasalla geht ganz offen und unverblümt mit den Gründen für ihre Tourabsage um:
Wir haben eine sehr lange, wilde Tour geplant. Wir wollten raus in so viele Orte, in denen wir noch nie waren. Aber wir mussten uns der bitteren Wahrheit stellen, dass es nicht geht in diesem Jahr. Und der Grund ist einfach und ebenso schmerzhaft auszusprechen: der Kartenverkauf. Oder eben der fehlende.
Kasalla
Die Gründe liegen nach den zahlreichen Corona-Verschiebungen auf der Hand: es gibt eine gewisse Sättigung nach einer Zeit mit mehrfach verschobenen Konzerten, die 2022 nachgeholt wurden.
ACT DES MONATS
Es ist so absurd, dass wir gerade aus einem ausverkauften Stadion und einer Top-10-Album-Platzierung heraus so eine bittere und uns das Musikherz brechende Botschaft senden müssen. Aber wir sind wohl nicht die Einzigen, denen es gerade so ergeht, weite Teile der Branche und so viele KollegInnen stehen vor ähnlich schweren Entscheidungen.
Kasalla
Es trifft also keineswegs nur kleine Indiebands, die unter nachlassenden Ticketverkäufen leiden, sondern auch etablierte Größen aus den Top 10 der deutschen Albumcharts. Und das ist neu.
Vermutlich gibt es noch viel mehr Bands und Künstler, die ihre Shows dieses Jahr aus denselben Gründen absagen oder verschieben mussten, sich aber nicht so offen äußern und aus Scham oder Imagegründen andere Gründe für Absagen vorgeben.
Wir haben beim Chef des Konzertveranstalters FKP Scorpio, Stephan Thanscheidt, nachgefragt, was da los ist und ob wir uns etwa künftig auf weniger Konzerte einstellen müssen.
„Unserer Beobachtung nach sieht sich die Livekultur in Deutschland mit mehreren Problemen gleichzeitig konfrontiert, denn die Corona-Krise war noch nicht wirklich vorbei, als die nächste bereits begonnen hat: Während die Nachfrage nach Kultur nach der Pandemie immer noch etwas gedämpft ist und nur große Namen und wenige gehypte Acts eine Ausnahme bilden, hat der schreckliche Krieg Russlands in der Ukraine unsere Gesellschaft und Wirtschaft tiefgreifend verändert: Mit den in einem noch nie dagewesenen Ausmaß explodierenden Energiepreisen werden alle Produkte und Dienstleistungen teurer. Dadurch und durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie ist die Inflation in Deutschland, Europa und der Welt sprunghaft angestiegen, was auf der Seite der Konsumenten zu einer geringeren Nachfrage und auf Seite der Musiker oder Veranstalter zu steigenden Produktionskosten führt, mit denen es im ohnehin margenarmen Kulturbetrieb nahezu unmöglich ist, ökonomisch zu kalkulieren.
Die Nachfrage ist allerdings nicht so gering wie es manchmal den Anschein hat. Wir befinden uns immer noch in einer Phase, in der viele pandemiebedingt verlegte Veranstaltungen nachgeholt werden, während gleichzeitig neue Events auf den Markt drängen. Ein großes Angebot führt dann dazu, dass sich eine eigentlich stabile Nachfrage auf mehr Veranstaltungen verteilt, die dann im Mittel weniger gut besucht sind.“
Stephan Thanscheidt (CEO FKP Scorpio)
Es gibt also Grund zur Hoffnung, dass sich die Lage im kommenden Jahr wieder etwas stabilisiert, vorausgesetzt, die nächste Krise wartet bereits an der nächsten Ecke. Klimakrise und die große Abhängigkeit der Weltwirtschaft von China sind nur zwei Themen, die die Welt wohl noch lange in Atem halten werden.
Uns bleibt in dem Zusammenhang nur der Appell: geht mehr auf Konzerte, wenn ihr könnt! Schaut euch vor allem Shows in den kleinen Clubs an, denn dort sind die Künstler unterwegs, die nicht im Geld schwimmen, sondern deren Kunst unmittelbar von den Ticketverkäufen abhängt.
Es gibt in Deutschland zahlreiche Clubs mit erstklassigem Booking, wo ihr euch auch einfach mal ein Konzert anschauen könnt, ohne die Bands zu kennen. Inspiration findet ihr in unserem Konzertkalender. Nach zwei Jahren Corona wissen wir schließlich alle, wie es sich anfühlt, wenn Clubs schließen und Konzerte abgesagt werden müssen.